Psychother Psychosom Med Psychol 2011; 61(6): 245
DOI: 10.1055/s-0031-1276843
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Unsichere Bindung – Ein entwicklungspsychologisches „missing link” zur Erklärung somatoformer Störungen?

Insecure Attachment – A Developmental „Missing Link” to Explain Somatoform Disorders?Bernhard  Strauß1
  • 1Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Jena
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Publication Date:
07 June 2011 (online)

Prof. Dr. Bernhard Strauß

In der in diesem Heft veröffentlichten Arbeit „Bindung und somatoforme Störungen” [1] beschreiben Eva Neumann und ihre Koautoren eine Studie bei 15 Patienten mit einer somatoformen Schmerzstörung, in der als zentrales Erhebungsinstrument das Erwachsenenbindungsinterview (AAI) verwendet wurde, um die Bindungsrepräsentation der Patienten im Vergleich zu einer klinisch unauffälligen Kontrollgruppe zu beschreiben. Im Unterschied zu einer anderen deutschen AAI-Studie bei Patienten mit somatoformen Störungen [2], in der eine relativ deutliche Dominanz einer abweisenden Bindungsrepräsentation in der klinischen Stichprobe gefunden wurde, berichten Neumann et al. davon, dass Hinweise auf eine unverarbeitete Bindungsrepräsentation bzw. Anzeichen unverarbeiteter Verluste und Traumata besonders charakteristisch waren für die Schmerzpatienten, die – gemäß der üblichen Klassifikation in 3 Kategorien – ansonsten zu 60 % als unsicher-verstrickt und zu 40 % als abweisend klassifiziert wurden.

Viele Studien aus dem Feld der klinischen Bindungsforschung, die sich mit der Frage des Zusammenhangs spezifischer Störungen mit spezifischen Bindungsrepräsentationen befassen, haben das Problem kleiner Stichproben, was u. a. auch mit dem hohen Aufwand speziell bei der Anwendung des AAI zusammenhängt [3].

Dennoch zeichnet sich speziell im Zusammenhang mit medizinisch unerklärten körperlichen Symptomen bzw. somatoformen Störungen (einschließlich der somatoformen Schmerzstörung) ein relativ kohärentes Bild bezüglich der Befunde ab, nämlich ein eindeutiges Überwiegen unsicherer Bindung mit einer – zumindest im Vergleich zu anderen klinischen Stichproben – erhöhten Rate unsicher-abweisender Bindung.

Aus der entwicklungspsychologischen Forschung ist nun schon lange bekannt, dass speziell unsicher vermeidend gebundene Kinder in der Fremden Situation – trotz scheinbar „coolen” Verhaltens in der Trennungssituation – mit deutlich erhöhter Kortisolausschüttung reagieren [4]. Auch bei (gesunden) Erwachsenen mit abweisender Bindungsrepräsentation konnte gezeigt werden, dass eine erhöhte autonome Aktivierung im Verlauf von Bindungsinterviews auf Fragen zu Bedrohung, Verlust, Trennung sichtbar wurde [5]

Basierend auf solchen Befunden hat sich mittlerweile eine umfassende Theorie etabliert, derzufolge unsichere Bindung, speziell unsicher-vermeidende Bindungsstrategien mit einer reduzierten Fähigkeit einhergehen, Affekte zu erleben und zu differenzieren und diese adäquat zum Ausdruck zu bringen [2]. Unsichere Bindung wird in diesem Kontext mit einer „defensiven Form der Emotionsverarbeitung und des Emotionsausdrucks” in Verbindung gebracht. Der Beitrag von Neumann et al. [1] erweitert diese Auffassung im Hinblick auf die Bedeutung unverarbeiteter Traumata und Verluste, die in der untersuchten Stichprobe von Schmerzpatienten relativ typisch waren und die in das Bild einer eingeschränkten Affektverarbeitung bei Patienten mit somatoformen Störungen gut passen.

Die klinische Bindungsforschung der letzten Jahre hat eine Reihe von Befunden geliefert, die das Verständnis somatoformer Störungen um eine entwicklungspsychologische Dimension erweitert hat und das klinisch oft beschriebene Phänomen einer eher „alexithymen” Art der Symptombeschreibung mit der auf der Basis früher Interaktionen entwickelten Strategie des Rückzugs aus Gründen des Selbstschutzes erklären [6]. Dieser Befund hat bereits Eingang gefunden in störungsorientierte Behandlungsansätze bei somatoformen Schmerzstörungen [7] und könnte in Zukunft auch dazu anregen, die oft schwierige Arzt-Patient-Interaktion bei Patienten mit somatoformen Störungen besser zu verstehen [8].

Literatur

Prof. Dr. phil. habil. Bernhard Strauß

Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Universitätsklinikum Jena

Stoystraße 3

07740 Jena

Email: bernhard.strauss@med.uni-jena.de