Psychiatr Prax 2011; 38(6): 270-273
DOI: 10.1055/s-0031-1276865
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Antidepressiva bei leichten depressiven Störungen

Antidepressants For Mild Depressive DisordersPro: Thomas  C.  Baghai, Martin  Lieb, Hans-Jürgen  Möller Kontra: Tom  Bschor, Martin  Härter, Henning  Schauenburg
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Publication Date:
30 August 2011 (online)

Pro

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind depressive Störungen von herausragender gesundheitsökonomischer Bedeutung und verursachen neben dem Leidensdruck der Betroffenen häufig psychosoziale Beeinträchtigungen und Erwerbsminderung [1].

Eine adäquate Therapie besteht aus einer multimodalen Kombinationstherapie, welche biologische pharmakologische und nichtpharmakologische Therapien, Psychotherapie und Soziotherapie mit individuellem Schwerpunkt, der sich im Behandlungsverlauf verändern kann, einsetzt. Hierbei wird versucht, eine individualisierte Behandlung mit größtmöglicher Sicherheit und Verträglichkeit sowie optimaler Ansprechwahrscheinlichkeit durchzuführen.

Aufgrund ihrer guten Verträglichkeit und der breiten Erfahrung werden selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) meist als Mittel der ersten Wahl eingesetzt. Ebenso kommen jedoch Präparate mit dualem Wirkmechanismus wie selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (SNRI), noradrenerg und spezifisch serotonerg (NaSSA) wirkende α2-Blocker, ein selektiver Dopamin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (DNRI) infrage. Aufgrund der guten Verträglichkeit kommen aber ebenso ein selektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (NARI), ein reversibler selektiver Hemmer der Monoaminooxidase A (RIMA) oder ein Melatoninrezeptorenagonist mit 5-HT2C-rezeptorenantagonistischen Eigenschaften infrage. Trizyklische Antidepressiva (TCA) werden hingegen seltener, irreversible MAO-Hemmer aus Sicherheitsgründen nur als Therapie der zweiten Wahl bei Pharmakotherapieresistenz eingesetzt [2].

Obwohl in kontrollierten Studien nach Gabe von Antidepressiva Nichtansprechraten um die 30 % festestellt wurden [3] und diese bei naturalistischen Studiendesigns sogar noch höher ausfallen können [4], ist die Effektivität einer antidepressiven Pharmakotherapie bei mittel- bis schwergradigen Depressionen durch kontrollierte klinische Prüfungen gut belegt und in Metaanalysen bestätigt worden [5].

Differenzierung leichtgradiger Depressionen

Depressive Episoden können anhand ihres Schweregrads in schwere, mäßiggradige und leichte Depressionen eingeteilt werden. Diagnosesysteme wie die Internationale Klassifikation der WHO (ICD-10) [6] gehen rudimentär auf eine Schweregradeinteilung ein, spezifische Ratingskalen wie z. B. die Hamilton- (Hamilton rating scale for depression, HAM-D) [7] oder die Montgomery-Åsberg-Skala (Montgomery-Åsberg depression rating scale, MADRS) [8] sind jedoch besser geeignet. Die Sensitivität dieser Skalen für Veränderungen der depressiven Symptomatik gerade bei leichtgradigen Depressionen wird jedoch als suboptimal beurteilt [9].

Von besonderer klinischer Bedeutung ist die Schweregradeinteilung, weil Leitlinien wie z. B. die des National Institute for Clinical Excellence (NICE) [10] eine medikamentöse Behandlung primär nur für mittelgradige bis schwere, nicht aber für leichtgradige Depressionen empfehlen und sich die S3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde teilweise an diesen Empfehlungen orientieren [11]. Für die Empfehlung, bei milderen Formen depressiver Erkrankungen zunächst nur psychotherapeutische Interventionen einzusetzen, Antidepressiva nur bei Therapieresistenz gegenüber diesen Verfahren zuzulassen [10] und sich lediglich mit einer Beobachtung des Krankheitsverlaufs („active monitoring” [12]) zu begnügen, gibt es jedoch derzeit noch keine ausreichende empirische Grundlage, daher wird sie weiterhin kontrovers diskutiert. Für die Notwendigkeit der Behandlung von mittelschweren bis schwergradigen Depressionen mit Antidepressiva, häufig mit psycho- und soziotherapeutischer Begleitung, besteht jedoch ein breiter klinischer und wissenschaftlicher Konsens in allen wichtigen Leitlinien (z. B. World Federation of Societies of Biological Psychiatry, WFSBP [13], American Psychiatric Association, APA [14]).

Therapie leichtgradiger Depressionen

Da für die klinische Wirksamkeit verschiedenster antidepressiver Therapiestrategien eine gute Evidenzlage besteht, werden in den gängigen Leitlinien unterschiedliche Ansätze präzisiert. Die bereits erwähnte aktive Beobachtung [12] sollte zunächst neben der Berücksichtigung psychosozialer Probleme auch Psychoedukation mit weitergehenden Informationen über depressive Erkrankungen beinhalten. Auch die DGPPN empfiehlt im Falle von leichten depressiven Episoden eine aktiv abwartende Begleitung [11] für zunächst 2 Wochen, da möglicherweise die Symptomatik auch ohne aktive Behandlung abklingt. Allerdings wird auch in diesen Leitlinien darauf hingewiesen, dass nach kritischer Nutzen- / Risikoabwägung Antidepressiva auch bei leichten depressiven Episoden eingesetzt werden können. Eine ähnliche Empfehlung kann man den amerikanischen Leitlinien der APA [14] sowie den Leitlinien der WFSBP [13] entnehmen.

In einer Metaanalyse wurde über eine verminderte Wirksamkeit antidepressiver Pharmakotherapien bei leichtgradigen Depressionen berichtet [15], allerdings konnten inzwischen methodische Mängel dieser Untersuchung belegt werden [16], die eine sichere Interpretation ausschließen.

Der therapeutische Nutzen einer Pharmakotherapie bei leichten Depressionen ist ausreichend gut belegt. Selbst Präparate, für die es keinen Wirksamkeitsnachweis bei schweren Depressionen gibt, sind in der Behandlung leichtgradiger Depressionen wirksam. Dies gilt z. B. für Johanniskraut / Hypericum perforatum [17] [18], das trotz eines nicht unbeträchtlichen Interaktionspotenzials sehr gut verträglich ist, oder für Benzodiazepine [19], deren langfristiger Einsatz bei depressiven Störungen aufgrund des Toleranz- und Abhängigkeitspotenzials kontraindiziert ist. Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer werden aus Verträglichkeitsgründen häufig als Mittel der ersten Wahl zur Behandlung depressiver Störungen eingesetzt. Ein Wirksamkeitsnachweis bei leichtgradigen Depressionen wurde in dieser Gruppe beispielsweise für Fluoxetin [20] oder Sertralin [21] erbracht. Gleiches wurde in der Gruppe dual wirksamer selektiver Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer für Duloxetin belegt [22]. Das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin war bei leichtgradigen Depressionen mit einem HAM-D17-Summenscore ≥ 13 ebenfalls wirksam, allerdings konnte bei noch geringerem Schweregrad < 13 keine ausreichende Wirksamkeit gezeigt werden [23] [24]. Die Behandlung leichtgradiger depressiver Erkrankungen im Rahmen einer antidepressiven Pharmakotherapie kann daher generell empfohlen werden [2] [25], dies gilt insbesondere für Patienten, die eine frühzeitige Symptombesserung innerhalb der ersten beiden Behandlungswochen aufweisen [26]. Es gibt einen Konsens darüber, dass auch leichtgradige Depressionen von einer antidepressiven Pharmakotherapie profitieren können [2] und es einer individuellen Nutzen- / Risikoanalyse bedarf, die auch die Risiken der Unterlassung einer effektiven Therapie mit der Möglichkeit der Entwicklung depressiver Erkrankungen schwererer und chronischer Ausprägung in die Überlegungen einbezieht.

Therapie subsyndromaler Depressionen

Subsyndromale Depressionen erfüllen die diagnostischen Kriterien von ICD-10 oder DSM-IV nicht vollständig, können aber trotzdem behandlungsbedürftig sein. Mit ihnen assoziierte funktionelle Defizite können bei subsyndromaler oder unterschwelliger Depression zu massiven psychosozialen Beeinträchtigungen führen [27] [28] und sogar einer Beeinträchtigung gleichen, wie sie das Vollbild einer depressiven Erkrankung hervorruft [29]. Zudem besteht ein nicht unerhebliches Risiko der Befundverschlechterung bis hin zum Vollbild einer depressiven Episode oder rezidivierenden depressiven Störung [30] sowie zur Entwicklung einer sich chronisch verschlechternden Erkrankung [31].

Bisher angewandte Untersuchungsdesigns in randomisierten kontrollierten Studien waren unglücklicherweise nur unzureichend geeignet, um die Besserung subsyndromaler Depressionen durch Antidepressiva ausreichend zu belegen [32], ihre bessere Berücksichtigung in zukünftigen Studien wurde daher gefordert [29]. Gut belegt ist jedoch, dass vor allem die Persistenz subsyndromaler depressiver Symptome nach inkompletter Remission einer depressiven Episode eine Langzeittherapie mit Antidepressiva erfordert um die Symptomatik zu verbessern und einen erneuten Rückfall einer schwereren Depression zu verhindern [33].

Aus Sicht des Klinikers ist daher die konsequente Behandlung subsyndromaler Depressionen angezeigt und wird trotz der noch unzureichenden Evidenzlage speziell dann empfohlen, wenn besondere Risikofaktoren wie z. B. eine positive Familienanamnese für Depressionen, Suizidalität, fortbestehende Residualsymptomatik nach Teilremission einer schwereren Depression oder eine außergewöhnliche psychosoziale Belastungssituation vorliegen [28].

Fazit

Eine antidepressive Therapie besteht heutzutage aus einem Therapieangebot, das pharmako-, psycho- und soziotherapeutische Elemente mit individuellen Schwerpunkten enthält. Diese werden durch psychiatrische und somatische klinische Faktoren, aber natürlich auch durch die Patientenpräferenz mitbestimmt. Während bei mittel- und schwergradigen Depressionen die Mitanwendung biologischer Therapieverfahren (meist Pharmakotherapie) obligat ist, muss bei leichtgradigen Depressionen im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung neben dem individuellen Risiko, eine schwerergradige oder chronifizierte Depression mit all ihren psychiatrischen und somatischen Risiken zu entwickeln, auch die Entscheidung der betroffenen Patienten berücksichtigt werden. Bei erhöhten Risiken kann daher eher zu einer begleitenden antidepressiven Pharmakotherapie geraten werden, falls diese fehlen, kann die in vielen Leitlinien vorgeschlagene aktive Beobachtung zumindest vorübergehend ausreichend sein. Unabhängig davon sind die aktive Begleitung betroffener Patienten und die Koordination sowie gegebenenfalls auch die Verlagerung der psychiatrischen Therapieschwerpunkte obligatorischer Bestandteil einer lege artis durchgeführten Therapie.

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Priv.-Doz. Dr. Thomas C. Baghai

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
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Priv.-Doz. Dr. Tom Bschor

Abteilung für Psychiatrie
Schlosspark-Klinik

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