PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(3): 252-253
DOI: 10.1055/s-0031-1276885
Resumé
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Manches entwickelt sich anders als erwartet …

Olaf  Ballaschke, Bettina  Wilms, Peter  Kirsch
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Publication Date:
08 September 2011 (online)

Endlich geschafft! Eine neue Ausgabe der PiD ist fertig. Und das war keineswegs „so einfach” wie zunächst gedacht. Man kann ja derzeit das Gefühl haben, das Thema begleite einen auf Schritt und Tritt. So vergeht kaum eine Woche, in der nicht in irgendeiner medizinisch / therapeutischen Zeitschrift ein Beitrag zum ADHS zu finden ist. Und schaut man bei Google unter „ADHS Erwachsen” erscheinen schon über 200 000 Einträge. Wir waren uns daher sicher, auf Material für gleich mehrere Hefte zurückgreifen zu können. Aber falsch gedacht. Im Gegensatz zum derzeit großen öffentlichen Interesse finden sich hinsichtlich psychotherapeutischer Interventionen unterschiedlicher Richtungen / Schulen – was ja den Schwerpunkt der PiD darstellt – wenig systematische Untersuchungen und auch wenige potenzielle Autoren. Wir denken oder hoffen zumindest, trotzdem eine interessante Ausgabe mit möglichst vielschichtigen Sichtweisen zusammengestellt zu haben, die zu lesen Ihnen Freude und Bereicherung war.

So hat es uns gefreut, dass Prof. Döpfner – selbst ja ein „Urgestein” und einer der Experten auf dem Gebiet der ADHS des Kindes- und Jugendalters und ihrer psychotherapeutischen Interventionen – einen Beitrag über den Symptomwandel eines ADHS über die Lebensspanne hinweg beigesteuert hat. Besonders bedenkenswert erscheint uns seine Überlegung, dass die psychotherapeutische Intervention ihren Fokus verändern sollte, von der umfeldzentrierten Intervention auf die individuumszentrierte, die die Probleme der herangewachsenen oder erwachsenen Betroffenen mit ihrem Selbstbild, ihrer Beziehungsgestaltung oder ihren Alltagsproblemen in den Mittelpunkt stellt. Döpfners Artikel wurde wunderbar abgerundet und ergänzt durch den Artikel von Herrn Supprian und seinen KollegInnen über ADHS im höheren Lebensalter. Was haben wir gelernt? Ein ADHS kommt selten „aus heiterem Himmel” während des Studiums als „Erklärung” für eine nicht geschaffte Prüfung, andererseits ist man auch im höheren Lebensalter nicht vor Beeinträchtigungen durch Symptome eines ADHS gefeit, auch wenn diese verschiedenen Umformungen und Abschwächungen erleben mögen. Auf jeden Fall zeigt sich, dass die Beschäftigung mit ADHS im höheren Erwachsenenalter ein Thema der Zukunft, auch für uns Psychotherapeuten, sein wird, bei dem es noch vieles zu entdecken und zu erforschen gibt. Interessant wird sein, inwieweit zukünftige Diagnosesysteme eine eigenständige ADHS des Erwachsenenalters definieren werden, eine entsprechende Diskussion ist ja hinsichtlich des DSM-V in vollem Gange. So erwartet der derzeitige Diskussionsentwurf die ersten Symptome spätestens mit zwölf Jahren (früher sechs Jahre) und es wird spannend zu sehen, wie diese Entwicklung weitergeht.

Bei der Suche nach psychotherapeutischen Interventionsprogrammen dominierten erwartungsgemäß die aus dem verhaltenstherapeutischen Bereich, wie bereits der Standpunktartikel von Frau Scharnholz und ihren Kolleginnen zeigt. Dies gilt auch für die Gruppenbehandlungen, wie der Beitrag von Frau Baer deutlich macht. Hinsichtlich verhaltenstherapeutischer Behandlungsmanuale gab es in den letzten Jahren doch einiges an Bewegung. Dies spiegelt sich auch in den DialogBooks wider. Alle vorgestellten Manuale wurden erst in den Jahren 2009 und 2010 veröffentlicht. Dabei fällt auch ins Auge, dass bei diesen Manualen die Gruppenbehandlungen dominieren, eine Tatsache, die ja in einem gewissen Widerspruch zur therapeutischen Praxis vieler niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen steht, bei denen in der Regel Einzelbehandlungen durchgeführt werden. Nina Baer beschreibt überzeugend die Vorteile des Gruppensettings für diese spezielle Patientengruppe, es ist aber sicher eine wichtige Aufgabe für uns Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die hilfreichen Ansätze aus den Gruppenmanualen auch in die Einzelbehandlungen einzubeziehen.

Auf der anderen Seite sind, wie uns Kollege Pütz in seinem Beitrag zu ADHS und Beruf ins Stammbuch schreibt, die Patienten mit ADHS ja auch sehr unterschiedlich und bedürfen oft einer sehr individuellen Sicht und Behandlungsplanung. Im Beitrag von Bettina Wilms wird darüber hinaus die Komplexität der möglichen Sichtweisen aus einer systemischen Perspektive heraus beleuchtet. Systematische Untersuchungen oder Veröffentlichungen anderer Therapien fanden wir (wie im Editorial bereits erwähnt) leider nicht. Vermutlich wird es in der Praxis aber – wie auch das Interview mit dem Qualitätszirkel zeigt – häufig so sein, dass Therapeuten im Rahmen einer störungsspezifischen und zugleich individuellen Therapie schulenübergeifend auf verschiedene Interventionsmodule zugreifen.

Ganz bewusst haben wir – trotz der psychotherapeutischen Ausrichtung der Zeitschrift – einen Beitrag der Pharmakotherapie gewidmet. Nicht nur die Anforderung einer multimodalen Therapie, wie sie ja auch in verschiedenen Beiträgen dieses Heftes gefordert wird, sondern auch die klinische Realität machen dies notwendig. Hier dürfte durch die gerade erfolgte erstmalige Zulassung eines methylphenidathaltigen Arzneimittels zur Behandlung eines ADHS im Erwachsenenalter Bewegung in die Therapie kommen. Auch der Beitrag von Olaf Ballaschke ist ein Appell zugunsten einer in vielen Fällen sinnvoll erscheinenden Kombinationsbehandlung im Sinne einer effektiven Ergänzung zweier wirksamer Methoden.

Die Diagnostik spielt im therapeutischen Alltag eine wichtige Rolle, wie wir auch gleich zu Beginn des Interviews mit einem Qualitätszirkel erfahren. Die hier von einem Kollegen angesprochene Bedeutung einer differenzierten neuropsychologischen Diagnostik spiegelt sich im Beitrag von Frau Sakreida wider. Geschickt hat sie Ergebnisse einer eigenen Untersuchung eingebettet in den aktuellen Stand zu neuropsychologischen Untersuchungsergebnissen bei Erwachsenen mit ADHS und dann auch noch ganz praxisnah eine Empfehlung für verwendbare Tests gegeben. Ob diese in der alltäglichen Praxis verwendet werden (müssen), hängt sowohl vom persönlichen Geschmack des Therapeuten wie auch von den vorhandenen Ressourcen ab (siehe Interview). Die Komplexität der Störung und die Notwendigkeit der differenzierten Betrachtung der Symptome wird im Artikel von Prof. Rist und Kolleginnen zum Thema Prokrastination und ADHS deutlich. Betrachten wir oft das „pathologische” Aufschieben wichtiger Aufgaben als ein typisches Anzeichen für ADHS, ist es eine interessante Nachricht, dass man die Konstrukte ADHS und Prokrastination klar voneinander abgrenzen kann und das Vorliegen von Prokrastination nicht als Indikator für eine ADHS gewertet werden sollte.

Erstaunt waren wir selbst, wie wenige systematische Untersuchungen es zu ADHS im Erwachsenenalter und Sport gibt. In vielen Beiträgen zur Therapie des ADHS wird betont, dass Sport eine wichtige Ergänzung sei – wissenschaftliche Belege dafür scheinen jedoch noch auszustehen. Allerdings argumentieren Andrea Ludolph und Paul Plenar plausibel zugunsten der Integration von Sport und gezielter Physiotherapie in ein Behandlungskonzept der adulten ADHS, weil sie nachvollziehbar davon ausgehen, dass die hierzu vorliegenden Erfahrungen aus dem Kindes- und Jugendalter auf die erwachsenen Patienten übertragen werden können.

Ebenfalls so gut wie keine systematischen Untersuchungen fanden wir zu alternativen Therapien bei Erwachsenen mit ADHS. Auch wenn man sie selbst als Therapeut nicht anwendet, wird man in der Praxis doch zunehmend häufiger mit Fragen dazu konfrontiert. Hier hilft ersatzweise nur ein Blick in den Kinder- und Jugendbereich. Und dort mehren sich die Hinweise, dass es durchaus positive Effekte bei verschiedenen alternativen Therapien gibt (z. B. Sinn et al. 2007, Pelsser et al. 2011, Arns et al. 2009). Keine dieser Therapien kann jedoch nach derzeitigem Kenntnisstand als Standardtherapie empfohlen werden und sie gelten lediglich als mögliche ergänzende Maßnahme.

Komplettiert und abgerundet wird aus unserer Sicht diese Ausgabe mit zwei Beiträgen, die die psychotherapeutische Praxis in den Mittelpunkt stellen. Frau Zeitler legt einen ausführlichen und praxisnahen Fallbericht vor. Das Interview mit den psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen, die sich zu einem Qualitätszirkel zusammengeschlossen haben, zeigt zum einen die sehr unterschiedlichen Blickwinkel, die man auf das Störungsbild ADHS haben kann, und zum anderen auch die Faktoren, die beeinflussen, ob die Diagnose überhaupt gestellt wird. Beide Beiträge zeigen noch einmal sehr schön und deutlich, dass „eine ADHS selten allein kommt”. Wir hoffen aber auf der anderen Seite auch, dass Frau Zeitlers Beschreibung eines Falles mit relativ langwierigem und teilweise auch schwierigem Verlauf Sie als psychotherapeutische Kolleginnen und Kollegen nicht abschreckt. Denn die Grundidee dieses Heftes war ja, dass wir Ihnen mit dieser Ausgabe Lust auf die Arbeit mit diesen Patientinnen und Patienten machen. Denn unser Heft zeigt ja nicht nur, dass wir es bei ADHS des Erwachsenenalters mit einer recht häufigen klinischen Realität zu tun haben, sondern dass die Patienten, die sich hinter dieser recht neuen Diagnose verstecken, sehr interessante, unterschiedliche, anspruchsvolle und damit auch herausfordernde Menschen sind. Wenn Sie sich als Therapeuten nicht „vor den Kopf gestoßen fühlen”, wenn Ihr Patient seine Diagnose (meist gestellt via Fragebogen aus dem Internet) schon mitbringt und gelegentliche anfängliche Unpünktlichkeit nicht sofort als grundlegendes motivationales Problem thematisieren (das hat der Betroffene vermutlich schon öfter in seinem Leben zu Unrecht erfahren), kann die Arbeit mit dieser Patientengruppe viel Spaß machen und Sie können viele neue Erfahrungen sammeln, die wir vielleicht in einer zukünftigen Ausgabe der PiD durch mehr Berichte und Untersuchungen aus unterschiedlichen Schulen zu diesem Thema dokumentieren können.

Zunächst hoffen wir, dass Sie viel Spaß und Anregung bei der Lektüre dieses Heftes hatten und es Ihnen Mut gemacht hat, die Erwachsenen mit ADHS, die oft Schwierigkeiten haben, einen Therapieplatz zu finden, zu behandeln.

Literatur

  • 1 Arns M, de Ridder S, Strehl U et al. Efficacy of neurofeedback treatment in ADHD: the effects on inattention, impulsivity and hyperactivity: a meta-analysis.  Clin EEG Neurosci. 2009;  40 180-189
  • 2 Pelsser L M, Frankena K, Toorman J et al. Effects of a restricted elimination diet on the behaviour of children with attention-deficit hyperactivity disorder (INCA study): a randomised controlled trial.  Lancet. 2011;  377 494-503
  • 3 Sinn N, Bryan J, Wilson C. Cognitive effects of polyunsaturated fatty acids in children with attention deficit hyperactivity disorder symptoms: a randomised controlled trial.  Prostaglandins Leukot Essent Fatty Acids. 2007;  78 311-326