PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(3): 269-273
DOI: 10.1055/s-0031-1276890
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wissen und Handeln vereinen, das Gelernte in die Tat umsetzen

Xu  Youxin im Gespräch mit Shi  Qijia (unter Anwesenheit des Beisitzers Sheng Li)
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Publication Date:
08 September 2011 (online)

Shi Qijia: Hallo Professor Xu, ich freue mich sehr, dass Sie mir gestatten, Sie im Namen der Zeitschrift „Chinesische Psychotherapie im Dialog” zu interviewen. Das Thema dieser Ausgabe lautet „Psychosomatik”. Schon sehr früh, im Jahr 1990, als ich am 1. Hospital der Peking Universität Doktorand der Neuropsychologie war, habe ich Ihre Kurse besucht. Damals hielten Sie eine Vorlesung zu „neurotischen Störungen”. Die Vorlesung war sehr lebensnah und hatte einen wichtigen Einfluss auf meine Überlegungen in der akademischen Forschung. In der letzten Ausgabe der Zeitschrift war das Thema Psychoanalyse, worin mein Kollege Li Xiaosi von einer ähnlichen Erfahrung sprach: In China gibt es viele Psychiater, die in ihrer beruflichen Laufbahn sehr stark von Ihrem Buch „Neurotische Störungen” beeinflusst wurden.

Xu Youxin: In der vor Kurzem veröffentlichten vierten Ausgabe von „Chinesische Psychotherapie im Dialog” beschrieb es Professor Zhao Xudong in seinem Artikel so: „Ich habe noch nie psychotherapeutisches Training erhalten, genauso wenig gab es einen Oberarzt, der mir zeigte, wie ich Psychotherapie durchzuführen habe.” Am frühesten schlug mir (die Deutsche) Margarete Haaß-Wiesegart bei einem Besuch in China 1988 vor, das Buch „Learning to do psychotherapy” zu übersetzen. Damals beantragte sie Fördermittel für ein Programm deutsch-chinesischer Zusammenarbeit, wodurch die Fertigstellung der Übersetzung mit 3000 Mark gefördert wurde. Man kann sagen, dass ich selbst von der Übersetzung dieses Buches sehr viel profitiert habe.

Aber Sie hatten doch bestimmt einen jugendlichen Elan und bestimmte Motivationen, die Sie dazu bewegten, im Bereich der Psychotherapie zu arbeiten!

Ehrlich gesagt hatte ich während meines Medizinstudiums besondere Angst vor Obduktionen. Man musste sich genau einprägen, wo welche Vene und welcher Nerv entlangläuft, welcher Muskel mit was verbunden ist, in welche Richtung er sich erstreckt etc. All das konnte man nur stur auswendig lernen. Die innere Medizin und Chirurgie dreht sich nur darum. Ich hab mir dann gedacht, dass ich vielleicht mit einem Psychiatriestudium dem entgehen könnte.

Das ist wirklich sehr ehrlich gesprochen. Wir Studenten haben immer gedacht, Sie hätten ein naturgegebenes Interesse an Psychiatrie gehabt, oder Beweggründe vor dem eigenen familiären Hintergrund.

Natürlich, das von Gao Juefu übersetzte Buch „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse” las ich während meiner Studienzeit. Dadurch wusste ich um Begriffe wie das Ich und das Über-Ich, konnte sie in der Realität aber nicht umsetzen. Ich und Doktor Zhong (gemeint: Zhong Youbin) haben in den 50er-Jahren als junge Ärzte entdeckt, dass meist großer Stress leicht zu körperlicher Erschöpfung führt. Die Kranken, bei denen Neurasthenie diagnostiziert wurde, hatten psychische Probleme, die sehr oft mit der jeweiligen Lebenserfahrung zusammenhingen.

Waren die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts nicht ein Jahrzehnt, in dem man für die Sowjetunion eintrat und die Politik betonte? Wenn Sie „psychische Gründe für die Krankheit” anführten, hatten Sie nicht die Befürchtung als „Idealist”[1]verurteilt zu werden?

Dafür muss man mit dem Hintergrund der damaligen Epoche vertraut sein. Die Diagnose „Neurasthenie” war in den 50er-Jahren sehr verbreitet, jedoch war die Erklärung der Krankheitsgründe sehr stark von den Einflüssen eines noch früheren Jahrzehnts, nämlich der Pawlow’schen Reflextheorie, geprägt. Diese Theorie besagt, dass die Großhirnrinde das Gleichgewicht von Erregung und dessen Hemmung steuert. Wenn dieses Gleichgewicht gestört ist, dann verursacht das „Neurasthenie”. Deshalb zielt eine Behandlung auf die verstärkte Regulierung des gestörten Gleichgewichts. Die Leute akzeptierten solche Erklärungen der Ärzte und die Ärzte waren es gewohnt, ihnen ein Rezept für die „Pawlow-Mischung” auszustellen, ein Bromidmittel mit Koffeinzusatz.

Half das?

Hm, ich weiß auch nicht so genau. Ich weiß nicht, ob die Wirkung durch den Arzt oder durch das Medikament kam. Vielleicht hatte das Medikament an sich eine Wirkung, vielleicht war es aber auch nur ein Placeboeffekt. Eigentlich war Pawlows Theorie auch nur in der Stalin-Ära sehr angesagt. Nachdem dann Chruschtschow an die Macht kam, wendeten sich viele von der Theorie ab, der sie früher so abergläubisch nachgelaufen waren, und missbilligten ihn. Nachdem sich die sowjetisch-chinesischen Beziehungen verschlechtert hatten, haben die Chinesen auch nicht mehr alles so einseitig betrachtet.

Sie erwähnten, dass Sie und Doktor Zhong in den 50er-Jahren den Eindruck hatten, dass psychische Ursachen der Grund für Neurasthenie waren, und befanden, dass die psychischen Ursachen für die Krankheit mit der individuellen Biografie eines Menschen zu tun hatten. Gab es denn keinen Krankheitsfall, der Ihnen besser in Erinnerung geblieben ist oder gab es Krankheitsfälle, bei denen politische Einflüsse Besonderheiten hervorgerufen haben?

Ich kann mich an einen Fall erinnern, mit dem ich 1956 das erste Mal in Berührung kam. Die Therapie wurde ununterbrochen bis 1964 durchgeführt, also insgesamt acht Jahre. Ich habe noch die Krankengeschichte, die das belegt. Warum hat sich das so in meinem Kopf festgesetzt? Es ist ein im Jahr 1924 geborener einfacher Mann, der zu anderen ehrlich und freundlich war. Zur Zeit der Kollaborationsregierung mit Japan hatte er als Polizist gedient, half anderen gern und genoss beim Helfen das Gefühl vom anderen umgarnt zu werden. Durch absichtliche Unachtsamkeit in seiner Position hatte er vielen sich Japan widersetzenden Kameraden geholfen und sie gedeckt. Nach der Befreiung berichtete er in seinem Bekennerschreiben während der ideologischen Umerziehung, dass er dachte, dem Volke gedient zu haben und später erst bemerkt hatte, dass er den Regierungsumstürzlern geholfen hatte. Er war fest davon überzeugt, sich von Grund auf ändern zu wollen. Nach der Befreiung wurde er schnell als einer der arbeitenden Bevölkerung eingestuft und einer Vertriebsfirma zur Arbeit zugeteilt. Weil er sich durch seinen Fleiß auszeichnete, wurde er ein Jahr später in die Partei aufgenommen. An einem Tag im Jahr 1955 als er mit dem Sekretär einer Parteizelle darüber sprach, ob ein anderes Parteimitglied bei der politischen Überprüfung bestehen würde, sagte der Sekretär, dass die Probleme der betreffenden Person noch nicht geklärt wären. Nachdem er dies ausgesprochen hatte, starrte er ihn an und sagte, dass das nicht nur bei dieser einen Person so wäre, sondern er auch noch in der Schwebe hinge.

Dieser Patient konnte sich noch genau an den Blick des Sekretärs erinnern, wie er ihn angestarrt hatte. Von diesem Tage an hatte er die zwanghafte Überzeugung, er sei ein Konterrevolutionär, und war immer in Angst selbst eines Tages zum Opfer einer Massenkritik gemacht zu werden. So kam es, dass er langfristig hier bei mir zur Behandlung kam. Normalerweise kam er einmal im Monat. Jedes Mal kam er, um sich einen neuen Krankenschein ausstellen zu lassen. Jedes Mal unterhielt ich mich mit ihm ungefähr eine halbe Stunde. Er berichtete mir, dass seine Symptome, solange er nicht zur Arbeit müsse, solange er diesen Sekretär nicht sehen müsse, sich verbesserten. Einmal las er zufällig das Buch „Rezepte chinesischer Kräuterarzneien in Versform”, woraufhin er entdeckte, dass sich dann die Zwänge in seinem Kopf verringern würden, sobald er das Buch so wie eine Bibel rezitierte, obwohl er nicht verstand, was er da sagte. Wenn die Symptome stärker hervortraten, nahm er oft dieses Buch zur Hand und rezitierte es. Er war krankgeschrieben, ruhte sich dann aber nicht zu Hause aus. Er ging jeden Tag in Houhai[2] spazieren, gab einen Mao aus, um einen Tag lang in einem Teehaus rumsitzen zu können. Er genoss dort vor allem das Lob von anderen Leuten. Weil er in der „alten Gesellschaft” als Polizist gedient hatte, verfügte er über weitreichende Kenntnisse. Im Vergleich zu seinen Zuhörern hatte er eine bessere Bildung erfahren. Deshalb fühlte er sich besonders wohl, wenn ihm andere sagten, dass er besonders erfahren sei. Er studierte überdies noch Baguazhang[3], eine Form des chinesischen Boxens. Auf dem Boden musste man anhand der acht Trigrammlinien eine bestimmte Schrittfolge einhalten. Das lernte er sehr schnell, und außerdem bewegte er sich sehr geschmeidig. Jedes Mal, wenn er Baguazhang vorführte, stand eine Reihe von Leuten um ihn herum und rief ihm Beifall zu. Das gab ihm auch ein gutes Gefühl, weswegen sich die Symptomatik dann auch erheblich verbesserte.

Konnte das politische Problem letzten Endes gelöst werden? Denn das war ja ursprünglich der Grund für seine Erkrankung.

Letztendlich wurde er in der Organisation offiziell nicht konterrevolutionär befunden. Weil die Gründe für diesen Fall größtenteils nur mit dem politischen Faktor zusammenhängen, deswegen kann man die Ursache auf diesen einen Faktor beschränken. Weil es so eindeutig war, ist mir dieser Fall so gut in Erinnerung geblieben. Jedenfalls waren damals alle mit politischen Bewegungen beschäftigt, akademische Diskussionen gab es nur wenige. Deswegen kann diese Beobachtung nicht als eine akademische Schlussfolgerung gelten, da sie auch nicht veröffentlicht wurde. Natürlich hätten dieser auch nicht viele Beachtung geschenkt.

Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie während der Kulturrevolution als Konterrevolutionär zusammengeschlagen wurden?

Das ist eine lange Geschichte. Da müssen wir bis in die Anfänge der 60er-Jahre zurückgehen. Damals fand ich, dass die Parole „Vorsitzender Mao lebe 10 000 Jahre” einfach nicht richtig ist. Sie hatte diesen Beigeschmack eines feudalistischen Monarchen und erst recht wird kein Mensch je so lange leben. Letztendlich wird niemand 10 000 Jahre alt werden können. Ich kritisierte immer am Vorsitzenden Mao herum, z. B. als wir in kleinen Gruppen Politik studierten, diskutierten wir diesen Satz des Vorsitzenden: „Das Studieren muss nicht eingeflößt, sondern wachgerufen werden.” Damit war ich wieder nicht einverstanden. Ich fand diese Formulierung unpassend, weil nicht alle Dinge wachgerufen werden können. Bestimmte Sachen müssen nun mal eingetrichtert werden. Zum Beispiel Cao Cao aus der Zeit der streitenden Reiche[4], wie hätte zu seiner Zeit etwas wachgerufen werden können? Diese Aussagen von mir haben sich ein paar Leute gemerkt. Als dann 1966 die Wandzeitungen angeschlagen[5] wurden, wurde ich sofort als Konterrevolutionär festgenommen und weggesperrt. Mein Problem war, dass ich diese Dinge offen bei Studiensitzungen gesagt hatte, wovon es Aufzeichnungen gab. Mir konnte man keine konkreten konterrevolutionären Aktionen nachweisen, und darüber hinaus war ich bereit, meine Fehler zuzugeben. Somit wurde ich nach vier Monaten zu meiner alten Arbeitsstelle zurückgeschickt, wo ich unter der Überwachung der „Massen” meine Arbeit wieder aufnahm.

(lacht) Haben Sie wirklich Ihre Fehler zugegeben?

(schweigt einen Moment) Ich musste meine Fehler bekennen, ansonsten wäre ich noch übler zugerichtet worden oder sie hätten mich wahrscheinlich sogar totgeschlagen. Ich gestand, dass es ein Fehler war, dem Satz „Vorsitzender Mao lebe 10 000 Jahre” zu widersprechen. Ich verstand, dass diese Parole eine Art und Weise des Volkes ist, den Vorsitzenden Mao zu verehren und zu wertschätzen. Zuvor hatte ich das Ganze nur sehr rational beurteilt.

(ernst) Wie hat Sie diese Erfahrung beeinflusst?

(schweigt) Hat es nicht, fast gar nicht. Auf die akademischen Ansichten hat es fast keinen Einfluss gehabt. (schweigt eine Weile)

Wie hat es Sie beeinflusst, als Konterrevolutionär zusammengeschlagen, um dann zurückgeschickt und von den Massen überwacht zu werden?

(tief bewegt) Man kann sagen, ich wurde schikaniert und dazu noch körperlich misshandelt.

Aber Sie sagten gerade, dass es Sie nicht beeinflusst hätte. Hat es Sie wenigstens in irgendeiner Form beeinflusst?

Xu: (schweigt)

Sheng Li: Das geht nicht. Vor der Kamera und mit Tonband geht das nicht, das ist zu schmerzhaft.

Damals hatten Sie noch diesen jugendlichen Elan, die Unabhängigkeit eines Intellektuellen. Äußern Sie heute noch Ihre Meinung?

Was bringt das? Wenn ich weiß, dass es nichts bringt, dann behalte ich es für mich.

Wenn Intellektuelle ihre Einwände nicht äußern dürfen, dann kann man sie nur „Intelligente” nennen.

Wie viele wirkliche Intellektuelle gibt es überhaupt? Chen Yinke[6] zählt als einer.

Wang Guowei[7] zählt wohl auch dazu.

Angenommen es würde ein Krieg ausbrechen und ich würde festgenommen werden, ich würde einfach alles gestehen. Deswegen hab ich nicht das Zeug zum Parteimitglied.

Sie sind ein ehrlicher Mensch. Lassen Sie uns zur Diskussion der Psychoanalyse zurückkommen. Eine deutsche Psychoanalytikerin, Antje Haag, die in Shanghai schon viele Fortbildungen zur Psychoanalyse abgehalten hat, sagte vor Kurzem in einer Diskussionsrunde, dass sie bezweifle, dass Chinesen die Psychoanalyse letztlich wirklich verstehen. Kann Psychoanalyse in China wirklich angewendet werden? Sie kennen doch auch Frau Haag.

Natürlich kann man das, nur sind die Formulierungen nicht gleich. Sie und ich sprechen von ein und demselben Nomen, aber das Verständnis dieses Nomens ist für jeden Menschen anders. Das gehört auch zur Psychoanalyse. Freud hatte zwei berühmte Schüler, Jung und Adler. Die beiden haben dann später ihre eigenen Schulen gegründet, jeder ging seinen eigenen Weg.

Gibt es kulturelle Faktoren, die eine Anwendung beeinflussen? Zum Beispiel der Westen betont den Individualismus und China die Kollektivität?

Es gibt keinen absoluten Individualismus. Gibt es denn im Westen keine Familien und Ehepaare?

Ich möchte an einem Beispiel den Einfluss des Unterbewussten anführen. Im Westen schläft das Kind schon sehr früh getrennt von den Eltern, in China erfolgt das etwas später oder sehr viel später. Diese Trennung erzeugt im Unterbewusstsein eine andere Eigenständigkeit des Individuums.

Das erinnert mich an einen meiner Fälle. Die Eltern hatten sich, als das Kind noch sehr klein war, scheiden lassen. Weil der Vater die Tochter großzog, standen sich die beiden sehr nahe, es gab keine Tabus zwischen ihnen. Der Vater kam, nachdem die Tochter 20 Jahre alt geworden war, in Behandlung, weil die Tochter auf Gedeih und Verderb keine Liebesbeziehung eingehen, geschweige denn einen anderen Mann heiraten wollte. Sie meinte, außer ihren Vater würden sie keinen anderen Mann ehelichen.

Haben Sie gefragt, ob Inzestverhalten vorlag?

Habe ich nicht. Ich konnte ihn nicht behandeln. Der Vater kam zweimal und wart seitdem nicht mehr gesehen.

Können Sie Inzestverhalten nicht tolerieren?

Der Inzest war nicht der Schwerpunkt. Der Schwerpunkt war, dass sie nicht zusammensein konnten. Ich konnte die Behandlung aus dem Grund nicht durchführen, weil sie meine Bedingung nicht erfüllen konnten sich zu trennen.

Doktor Zhong hat die „Kognitive-Erkenntnis-Therapie” erfunden, Li Xintian die Wujian-Therapie[8]. Ihre Praxiserfahrung ist ja auch schon sehr lang, aber Sie haben nie eine eigene Theorie vorgebracht.

(lacht) Doktor Li ist aus dem 21. Jahrgang der Xiangya-medizinischen Fachhochschule, ich aus dem 27. Jahrgang und Yang Desen aus dem 29. Jahrgang. Ich bin vier Jahre jünger als Doktor Li, warum trennen uns dann sechs Jahrgänge? Weil er mit vier Jahren eingeschult wurde, und ich erst mit sechs. Als ich noch in meinem PJ war, war Li Xintian schon praktizierender Arzt. Er war mein Lehrer, ein sehr aufrichtiger Mensch.

Haben Sie Ihre Englischkenntnisse auch in der Xiangya erworben?

Ich komme aus Changsha, dort habe ich in der Sekundarstufe eins begonnen Englisch zu lernen. Die auffälligsten Fortschritte in der englischen Sprache habe ich in der zwölften Klasse gemacht, so ungefähr im Jahr 1945. Nachdem der damalige Provinzgouverneur He Jian abgedankt hatte, übernahm seine englischsprachige Sekretärin Englischkurse an meiner Schule. Ich habe sehr viel von ihr gelernt. In den Jahren 1947 bis 1949 war es in Changsha relativ ruhig, wir Medizinstudenten haben nicht allzu viele Turbulenzen des Krieges miterlebt. Damals fehlte es im ganzen Land an medizinischem Fachpersonal. Einer meiner Kommilitonen wollte um jeden Preis zurück in seine Heimatstadt im Kreis Xiangxi. Meine Eltern und mein älterer Bruder sind alle in Peking, ich konnte nach meinem Abschluss frei wählen, wo ich hinwollte. Ich wählte Peking.

Von Ihrem Fachbereich aus gesehen haben Sie ja trotzdem Ihre eigenen Ansichten. In Ihrem Buch „Neurotische Störungen” berichten Sie von sehr vielen persönlichen Erfahrungen.

Vom Fachbereich aus betrachtet tendiere ich eher zur Richtung von Doktor Li. Ich finde, dass Psychoanalyse in China angewendet werden sollte, aber es bedarf der praktischen Umsetzung des Patienten, er muss sein Wissen mit seinem Handeln vereinen. Wenn man analysiert, warum ein Mensch von Alkohol abhängig ist oder warum er raucht, er dann dies aber nicht in seinem Handeln umsetzt, sich nicht ändert, dann wird das Ergebnis kein gutes sein. Ich bin auch nicht damit einverstanden, was sie in einem Artikel für eine Ansicht schildern. Sie schildern, dass es in den Anfängen einen deutschen Fachmann gab, der in China bei einer Fortbildung zu einem kranken Kind sagte: „Dass du so krank bist ist wirklich gut, so werden dich deine Eltern nie verlassen.” Ich finde nicht, dass das zur besonderen Anschauungsweise eines deutschen Psychoanalytikers gehört, es sollte auch nicht zu einer allgemeinen Anschauungsweise von internationalen Ärzten gehören. Genauso muss ein guter Arzt das sagen, was er zu sagen hat, aber noch mehr sollte er wissen, wann er es zu sagen hat.

Ich habe in meinem Buch „Neurotische Störungen” Freuds Haltung zitiert (blättert in der zweiten Ausgabe seines Buches auf Seite 277), der da sagt: „Aber welches Maß von Selbstgefälligkeit und von Unbesonnenheit gehört dazu, um einem Fremden, mit allen analytischen Voraussetzungen unvertraut, nach der kürzesten Bekanntschaft zu eröffnen, er hänge inzestuös an seiner Mutter, er hege Todeswünsche gegen seine angeblich geliebte Frau, er trage sich mit der Absicht, seinen Chef zu betrügen und dergleichen.” Freud erklärte sehr deutlich, zu welchem Zeitpunkt solche Sachen gesagt werden sollten: Dann, wenn der Patient dieser Erklärung schon sehr nahegekommen ist, dann wenn er selbst noch einen Schritt von der Erklärung entfernt ist. Der Analytiker hilft dem Patienten sozusagen (dem Ganzen) den letzten Schliff zu geben, das ist dann erst der richtige Moment. Warum bin ich mit der Aussage dieses (deutschen) Fachmanns nicht einverstanden? Unter anderem weil es eine Verwirrung im Patienten auslöst, und weil es zu Missverständnissen bei den Eltern führt, und darüber hinaus nicht zu einer positiven Beziehung mit den Eltern beiträgt. Ohne diese positive Beziehung zu den Eltern wird er sie nicht ein zweites Mal behandeln können, weil sie nicht noch mal kommen werden. Ich habe in der Klinik schon viele Kader, Parteimitglieder und Psychotherapeuten in der Beratung gesehen, die in sehr unpassenden Momenten sensible moralische oder politische Fragen aufgeworfen haben. Wenn diese Dinge zu früh und zu tiefgründig sind, löst das eine große Abneigung in ihnen aus. Sie kommen einmal und kommen dann nie wieder.

Das entspricht auch dem derzeitigen Fortschritt in der Psychotherapie. Früher wurden Konflikte stark betont und heutzutage die Aktivierung von Ressourcen. Früher betonte man die Technik, heute die Beziehung.

Die Beziehung zu betonen ist meiner Meinung nach auch sehr wichtig. Was Charaktere angeht, so bin ich in der Vergangenheit zu vielen Perfektionisten begegnet. Ich habe mal einen Aufsatz gelesen namens „Perfectionism and pseudo-perfectionism”. Der Artikel besagt, dass viele in der Therapie versuchten alles richtig zu machen, was ja auch noch nicht unrealistisch sei. In der Realität hohe Anforderungen zu haben sei auch nichts Schlechtes, wenn es sich jedoch dabei nur um leere Anforderungen und Versprechungen ohne dementsprechende Handlung drehe, so sei das Pseudoperfektionismus.

Das ist auch nach Heinz Kohut der Unterschied zwischen einem gesunden und einem krankhaften Narzissmus. Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass es zu Ihrer Zeit viele Patienten mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung gab? Meine Erfahrung ist, dass es zur jetzigen Zeit viele Patienten mit einer Borderline-Störung gibt.

Die Beschreibung der Borderline-Persönlichkeitsstörung entstand erst später, vom DSM-III an. Ich habe keine narzisstischen Anschauungen verwandt, eher phänomenologische und deskriptive.

Sie sind in den Augen aller ein Vorreiter der Psychoanalyse (in China), berufen sich aber auf keine Theorie explizit, erkennen psychoanalytische Erklärungen nicht an, betonen dann aber die Umsetzung! Dass das die Sicht vieler auf Sie damals verändert hat, war wohl unvermeidlich.

Ich habe etwas gegen reine Analyse ohne Umsetzung. Wenn etwas vom Unbewussten in das Bewusste aufsteigt und dann keine Maßnahmen ergriffen werden, dann wird sich das Problem auch nicht lösen lassen. Ich habe am 1. Juni 2004 beschlossen, das Rauchen aufzugeben und habe seitdem nie wieder eine Zigarette angerührt. Wenn man nicht handelt, dann wird man die Freuden des Lebens nicht erfahren und kann die Lebensqualität nicht verbessern!

Heute habe ich sehr viel von Ihnen profitiert. Ich danke Ihnen sehr für dieses Interview.

Aber nicht doch.

1 Anmerkung des Übersetzers: Ein „Idealist” war in dem damaligen historischen Kontext ein Schimpfwort für jemanden, der von der politischen Linie abweicht.

2 Anmerkung des Übersetzers: Houhai ist eine mit Seen angelegte Parkanlage in Peking.

3 Anmerkung des Übersetzers: Bagua steht für die acht Trigramme, die aus dem „Buch der Wandlungen” (Yijing) stammen und der Weissagung dienten (ba = acht, gua = Orakelzeichen). Zhang bedeutet Handfläche und bezeichnet, dass es sich um den Bagua-„Stil” handelt.

4 Anmerkung des Übersetzers: Cao Cao (155–15. März 220) war ein Kriegsherr, Stratege, Politiker und Dichter während der späten Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.). Er legte den Grundstein für die Wei-Dynastie (220–265), die eins von den Drei Reichen ist, in die China nach dem Zusammenbruch der Han-Dynastie zerbrach.

5 Anmerkung des Übersetzers: Das Anschlagen der Wandzeitungen symbolisiert den Auftakt zur Kulturrevolution.

6 Anmerkung des Übersetzers: Chen Yinke (3. Juli 1890–7. Oktober 1969) war Historiker, Sinologie und Sprachwissenschaftler sowie Mitglied in der Academia Sinica.

7 Anmerkung des Übersetzers: Wang Guowei (2. Dezember 1877–2. Juni 1927) war ein Intellektueller, Schriftsteller und Poet. Er zählt neben Chen Yinke, Liang Qichao und Zhao Yuanren zu den „vier großen Gelehrten” der Qinghua Akademie.

8 Anmerkung des Übersetzers: „Wu” bedeutet „verstehen”, bzw. „eine plötzliche Einsicht zu haben” (im Sinne von, dass jemandem ein Licht aufgeht). „Jian” steht hier für „etwas in die Tat umsetzen”.