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DOI: 10.1055/s-0031-1276892
Was der Patient nicht kann, kann er auch in der Therapie nicht …
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
08. September 2011 (online)
Dem Qualitätszirkel unterschiedlicher schulenspezifischer Ausrichtung in Leipzig gehören an: Ronny Kriebisch, Beverly Jahn, Bernd Weinert, Hans-Ulrich Wilms, Elisabeth Reichel (Name auf Wunsch geändert). Das Interview wurde in den Praxisräumen von Dipl.-Psych. R. Kriebisch geführt.
PiD: Uns interessiert, wie in der Praxis tätige Kollegen mit unterschiedlichem Hintergrund die Diagnostik und Behandlung von Patienten mit Beeinträchtigungen realisieren, die einem ADHS zugeordnet werden können.
H.-U. Wilms: Ich möchte mit dem Diagnostikthema beginnen: Ich habe in meiner Praxis nicht das Material zur Testung zur Verfügung und die Möglichkeit, die Komplexität dieser Störung zu erfassen. Was mir wichtig ist, bevor ich einen psychotherapeutischen Prozess einleite, ist die Frage, ob ein Kollege oder eine Kollegin, die mit diesem Thema gut vertraut ist, eine fundierte neuropsychologische Diagnostik durchführen kann, um die diagnostische Einschätzung abzusichern. Biografische Diagnostik ist bei mir möglich, aber neuropsychologische oder speziellere testpsychologische Diagnostik kann ich bei mir in der Praxis nicht leisten.
B. Jahn: In der Zeit in der Uni da hatte ich zwei Patienten, die wegen Komorbidität zu mir kamen. Mit ADHS bzw. Verdacht auf ADHS: einmal im Rahmen einer zwanghaften Persönlichkeit und einmal im Rahmen einer depressiven Erkrankung, aber auch mit so einer Persönlichkeitsakzentuierung ins Histrionische. Das sollte da differenzialdiagnostisch abgeklärt werden und in beiden Fällen ist kein befriedigendes Ergebnis rausgekommen.
B. Weinert: Ich habe in meiner kleinen Praxis in den letzten drei Jahren, in denen ich nun dabei bin, erst einmal die Diagnose gestellt. Und meine Herangehensweise ist nicht über die Diagnostik, sondern über die Beziehung. Wie kann ich mit dem Patienten, in diesem Fall war es ein junger Mann, eine Beziehung herstellen, soziale Bezugspunkte, Übertragung und Gegenübertragung und dann dreht es sich nicht sosehr um die Diagnose ADHS entsprechend bestimmter Kriterien nach IDC-10, sondern um die biografische Analyse: also die Frage, welche Konflikte vorliegen. Darüber hinaus würde ich mir die Frage stellen, ob ich in so einem Fall mit ihm arbeiten könnte, also Aufarbeiten, Betrauern, in der Beziehung bleiben oder ist es für mich sinnvoll, ihn zum Analytiker oder zum Verhaltenstherapeuten zu überweisen.
Was würde Sie dazu bringen, ihn zum Analytiker zu überweisen und was zum Verhaltenstherapeuten?
B. Weinert: Ich denke, dass die Verhaltenstherapie gute Modelle hat und es da viele Kapazitäten gibt und ja, der Analytiker, wenn mir die Beziehung nicht so gelingt, wie ich mir das vorstelle, dass es jemand eher schafft oder ich muss es so machen, dass es stimmt, und ich mich einigermaßen wohlfühle dabei.
Also viele Kollegen sagen ja, dass die Patienten so unzuverlässig sind. Ist das auch Ihre Erfahrung?
B. Weinert: Ja, ja – in der Tat unzuverlässig, und in diesem Falle handelte es sich um einen schizoiden jungen Mann, der gar kein Gespür dafür hatte, wie es mir geht. Er hat mir dann auch schon mal nachts um zwei eine SMS geschickt, dass er nicht kommen kann, nachdem er überhaupt verstanden hatte, dass er bei einer Verhinderung seinerseits absagen müsse, wenn er nicht kommen kann. Oder er kommt in meine Sprechstunde und zieht einen Stick aus der Tasche und „würfelt” mir so ein Psychiatrielehrbuch auf den Computer … das hab ich alles mit ihm besprochen. Das trifft aber doch mehr die Persönlichkeitsstruktur. Und es hat sich im Verlauf der Zeit klasse entwickelt, eine sehr schöne Beziehung, nach 47 Stunden jetzt, ich werd ihn dann auch entlassen. Er hatte sich dann dran gewöhnt, wie man es macht. Sein Thema war – er ist Medizinstudent –, dass er das Physikum nicht geschafft hat, er saß zu Hause und hat geträumt, sich mit belanglosen Dingen beschäftigt und hat nichts geschafft, ließ sich von Banalitäten ablenken, und ist auch zum Teil völlig unvorbereitet zu den Prüfungen gegangen; in dem Gedanken „Ich werd schon bestehen, ich hab ja bisher alles bestanden.” Das Abitur hatte er mit 1,2 gemacht und jetzt merkte er, dass das so nicht mehr ging und da hab ich mich gefragt, was liegt da nun im Hintergrund vor, dass er so lässig mit schlechtem Gewissen an Prüfungen herangeht. Wir konnten es besprechen und teilweise hab ich ihm dann auch ein Ersatz-Ich gegeben, ich hab ihm zwar nicht gesagt, was er lernen muss, aber ich hab ihm gesagt: „Sie machen sich jetzt einen Plan, Sie lernen so und so viel Stunden, dann machen Sie Pausen dazwischen und was machen Sie anschließend in den Pausen und das machen Sie dann und das hab ich in der ersten Zeit auch richtig abgefragt: „Haben Sie das gemacht?” ohne die Einzelheiten zu erfragen, ob er Kapitel fünf oder sieben gelernt hat. Das hat sich dann wieder ausgeschlichen, das brauchte ich nicht mehr. Er hat dann auch das Physikum bestanden, in der zweiten Wiederholung, und quält sich jetzt, ähnlich aber nicht mehr so stark durch den klinischen Abschnitt des Studiums.
H.-U. Wilms: Ich glaub, was du da beschreibst, ist auch die größte Herausforderung auf Therapeutenseite: Das was ich immer wieder sehe, was sich als Thema durchzieht, das Leben und den Alltag zu organisieren, größere Aufgaben zu bewältigen, mit Prüfungsanforderungen zurechtzukommen, das ist durchgängig ein Thema, und davon ist natürlich auch der Termin beim Psychotherapeuten betroffen, wenn der Patient seinen Alltag nicht organisieren kann, sind wir ja genauso davon betroffen.
B. Weinert: Ja, das ist der Anknüpfungspunkt: Wie geht der Patient mit mir um und wie reagiere ich darauf? Ich reagiere natürlich strukturiert, und ein bisschen patriarchal, auf alle Fälle am Anfang nicht partnerschaftlich. Da ist schon eine ganz erhebliche Stufe drin: Er ist der Patient und ich bin der Therapeut und ich erwarte von ihm, dass er kommt. Deswegen habe ich in dem Fall mit ihm auch, was ich sonst nicht so mache, einen Therapievertrag gemacht: Er muss dann zahlen, er bekommt das Geld allerdings auch wieder, wenn die Therapie denn mal zu Ende ist. Das, was er nicht kann, kann er auch bei mir in der Therapie nicht und an der Stelle bin ich Therapeut und muss mit ihm daran arbeiten.
H.-U. Wilms: Ich glaube, das müssen wir dann erst mal ertragen und als Verhaltenstherapeut würde ich in einem ersten Schritt grobe Aspekte von Zeitmanagement und Wochenstruktur und dazu gehörige Routinen mit dem Patienten entwickeln, damit ich überhaupt erst mal eine Grundlage lege, dass er oder sie regelmäßig zu mir kommt. Das ist die erste große Herausforderung und ich glaube, da haben wir Verhaltenstherapeuten über das Methodenspektrum, in dem wir ausgebildet sind, ganz gute Möglichkeiten, die Patienten abzuholen. Aber das ist auch das Schwierige am Anfang: zunächst einmal zu Beginn einer Therapie die Idee zu haben, dass hinter Unorganisiertheit eine solche Diagnose stehen könnte und dann die notwendigen Brücken zu bauen.
R. Kriebisch: Das ist auch meine Haltung. Wenn ich dem Gespräch folge, wandelt sich so ein bisschen meine Meinung … ich habe die Diagnose bisher nicht gestellt, aber wenn ich das so höre, dann habe ich darüber nachgedacht, welcher Diagnose ich solche Symptome zugeordnet habe: Das waren so vor allem die Patienten, die es nicht so richtig auf die Reihe kriegen, die eine Persönlichkeitsschwäche zu haben scheinen; ich tu mich auch so ein bisschen schwer, Persönlichkeitsstörungen als Diagnose überhaupt zu benennen, also nur im absoluten Notfall.
Von den Diagnosekriterien und den Materialien, die mir zur Verfügung stehen, fühle ich mich auch absolut schlecht ausgerüstet. Ich habe eher so allgemeine Literatur dazu und ich kann mich auch an so einen Selbstrating-Fragebogen erinnern, für ADHS bei Erwachsenen, wo man sich so ein bisschen dran orientieren kann. Ansonsten fühle ich mich da eher ratlos. Aber es ist interessant und ich geh grad in Gedanken meine Fälle durch, wer da so infrage kommt, wer da so reinpassen könnte, da sind etliche Studenten, allein durch die Nähe der Praxis zur Universität, die unter diesem Problem leiden, zu spät zum Termin kommen, wenig Alltagsstruktur haben, sich nur schlecht selbst organisieren können, und ich glaube, das ist das versteckte Leid, wo nicht so sehr das Hyperaktive und anderweitige Verhaltensauffälligkeiten im Vordergrund stehen.
B. Jahn: Wenn ich so überlege, wie wir ausgebildet wurden, finde ich diese Diskussion interessant: Mir fällt ein, da haben wir eine Vorlesung gehabt über ADHS bei Erwachsenen, aber mir würden auch die Spezifika der Behandlung fehlen. Und deswegen habe ich die Diagnose auch noch nie gestellt. Die Patienten kamen dann schon immer mit dieser Diagnose, meist aus stationären Aufenthalten und im dazugehörigen Arztbrief stand nicht wirklich etwas drin.
Sie würden sagen, weil Sie nicht gelernt haben, wie Sie das behandeln sollen, stellen Sie die Diagnose auch nicht?
B. Jahn: Ja, weil ich auch gar keine spezifische Ausbildung dafür habe und das auch gar nicht differenzialdiagnostisch gut einschätzen kann, weil da ja auch Symptome vorkommen, die man auch anderen Störungsbildern zuordnen kann. Ich würde mich schon deshalb nicht qualifiziert genug fühlen, ADHS bei Erwachsenen zu diagnostizieren. Also ich würde es genauso machen wie H.-U. Wilms: es diagnostisch abklären lassen von einem Neuropsychologen und nicht wirklich das Gefühl haben, dass ich das sauber genug selber diagnostizieren könnte.
Nehmen wir mal an, es kommt jemand in Ihre Praxis und er oder sie schildert, dass er seinen Alltag nicht strukturieren kann, merkt, dass es häufig Abbrüche oder die Gefahr von Abbrüchen im beruflichen Zusammenhang gibt, dass er oder sie Prüfungen nicht besteht und ähnliche Dinge und Sie sagen dann, Sie würden diesen Patienten oder diese Patientin zunächst in eine Spezialambulanz schicken …
H.-U. Wilms: … wenn ich die Verdachtsdiagnose hätte …
… und dann?
H.-U. Wilms: … würde ich ihm anbieten, weiterzuarbeiten. Das ist allerdings auch eine konzeptuelle Frage: Die ICD-10 stößt mich nicht unbedingt mit der Nase drauf, diese Diagnose vergeben zu können. Das heißt, da ich nur mit Erwachsenen arbeite, gibt mir auch mein Abrechnungssystem, wo ich die Diagnosen eingebe, keine vernünftige Variante, um das überhaupt zu diagnostizieren oder von Zeit zu Zeit über das Lesen der Ziffern in der ICD-10 mal dran zu denken, hey, das ist auch was, woran Du mal denken könntest. Dazu muss ich sagen, dass ich mich selbst auch nicht an dem Begriff des ADHS orientiere. Weil ich denke, da gibt’s seit den Achtzigerjahren, in denen ich mich damit beschäftigt habe, den Begriff der Teilleistungsschwäche. Dieses Konzept unterstellt, dass es Menschen gibt, die auf einem organischen Hintergrund eine Teilleistungsschwäche haben, die sich in den unterschiedlichsten Bereichen niederschlagen kann, letztendlich im gesamten Bereich der Psychologie, ob es das Denken, die Impulskontrolle, der Affekt oder auch die Motorik ist. An bestimmten Stellen treten ausgestanzte Defizite hervor bei ansonsten überdurchschnittlich oder durchschnittlich guten anderen Leistungen.
In der Lebensgeschichte ist das dann häufig so: Jemand der gehänselt worden ist, weil er Bälle nicht fangen kann, oder gehänselt worden ist, weil ihm ständig der Füllhalter abgebrochen ist, oder der Wutausbrüche hatte, im Affekt verharrt ist, seine Impulse nicht kontrollieren konnte oder auch Auffälligkeiten sonst im Sport, in der Bewegung, wenn mir da Beispiele erzählt werden, wenn ich so etwas sehe und einen Verdacht habe, dann schicke ich den Patienten oder die Patientin in die neuropsychologische Diagnostik. Und zwar nicht, weil ich aus irgendeinem Leistungstest einen Mittelwert haben möchte, sondern weil ich Leistungsprofile haben möchte, aus denen ich sehen kann, ob es einen roten Faden gibt und an irgendeiner Stelle so einen Zacken nach unten. Und diese Zacken, diese Teilleistungsschwächen, die interessieren mich dann, um mit den Patienten daran arbeiten zu können, wie er oder sie jetzt mit den Mitteln und Methoden, die wir als Verhaltenstherapeuten zur Verfügung haben, da irgendwelche Kompensationsstrategien entwickeln kann. Das ist so meine Hauptherangehensweise. Aber diese Profile zu erstellen, da habe ich einfach nicht die Möglichkeiten und diagnostisch werden wir durch die ICD-10 auch nicht gerade drauf gestoßen.
B. Weinert: Da sieht man mal den Unterschied zwischen unseren Therapieschulen. Ich würde da gar nicht von Anfang an auf die Diagnose schauen, sondern mich würde die Dynamik interessieren. Und du gehst von der Diagnose aus, aber am Schluss treffen wir uns. Wir treffen uns an der Stelle, wo der Bleistift immer wieder zerbricht. Also bei der Kindheit, wo die Kränkung vorliegt, die derjenige nicht ertragen hat und die er oder sie jetzt so massiv mitschleppt.
E. Reichel: Wobei ich der Meinung bin, dass eine Diagnose gerade bei ADHS auch eine große Entlastung für Patienten sein kann. Sie leiden meist sehr an ihrer Impulsivität, an ihrer häufig aufbrechenden Aggression usw. und manchmal braucht es dann einfach eine Begrifflichkeit, um eine Entlastung zu erfahren auch für das Umfeld. Also bei Kindern ist das ja ganz klassisch, dass Eltern da wirklich manchmal ein großer Stein vom Herzen fällt, wenn sie wissen, was los ist und sich nicht immer schuldig fühlen müssen, mit dem Gedanken „ich hab was falsch gemacht und deswegen reagiert mein Kind jetzt so”, sondern auch einfach eine entlastende Information haben: „Na klar, das und das liegt dem möglicherweise zugrunde”, ohne dass das jetzt zu einer Stigmatisierung führt, das kann also durchaus eine Entlastung sein, wenn die Probleme einen Namen bekommen.
Das wäre ja nochmal die Frage: Würden Sie denken, der Name macht eher eine Stigmatisierung und behindert eher das Arbeiten, oder würden Sie denken, dass der Name oder die Diagnose eher so was ist wie: Jetzt hat das Kind einen Namen und jetzt kann man eine Strategie entwickeln und dann wird's schon gehen … aber vielleicht gibt es ja auch einen Weg dazwischen und es geht gar nicht um die Frage von Diagnose oder Nichtdiagnose …
B. Jahn: Also ich denke, es geht um das „Sowohl-als-auch” und es hängt natürlich auch davon ab, welche Perspektive der Patient selbst darauf hat. Ich denke, dass es einmal Entlastung ist und dass es auch eine neurobiologische Fundierung gibt, denn das macht ja eigentlich die Entlastung, da gibt es das Konzept Schuld nicht. Aber es könnte natürlich auch eine Möglichkeit sein, das eigene Verhalten einerseits zu erklären, aber damit auch zu entschuldigen oder zu bagatellisieren. Ich kann mich an eine Patientin erinnern, die von sich sagte: Ich bin ein nicht diagnostiziertes ADHS-Kind, aber dann im Erwachsenenalter wurde es diagnostiziert. Ich finde es grad spannend, denn wir treffen uns allemal: Du hast in deiner Fallvignette VT-Elemente angedeutet …
B. Weinert: Ja, ja.
B. Jahn: Und ich habe bei dieser Patientin, die ich gerade im Auge habe, eher geguckt, diese Symptomatik, die sie hat, also dass sie was angefangen hat, wieder was liegen gelassen hat, wieder was anderes angefangen hat, also unstrukturiert war, dass sie dadurch aber auch bestimmte Beziehungserfahrungen gemacht hat. Mir ging es dann auch um Kränkungen und emotionale Distanz zur Mutter und Abwertungen und selbstwertmindernde Erfahrungen, und an der Stelle habe ich mich in der Therapie darauf konzentriert, mit ihr Techniken und Strategien zu erarbeiten, dass sie zu neuen Beziehungserfahrungen kommt und mehr Selbstwirksamkeit und Selbstmanagement kriegt und dazu habe ich dann wieder verhaltenstherapeutische Interventionen verwandt; allerdings unter dem Aspekt „Wie kann ich sie dabei unterstützen, dass sie sich besser managen kann und dadurch nicht ewig diese Beziehungserfahrungen, die abwertend und ablehnend waren, reinszeniert?” Das war eine relativ lange Therapie, die einzige über 80 Stunden, die ich gemacht habe. Aber ich würde diesen Therapieprozess als relativ erfolgreich bewerten. Ich habe zum Beispiel mit ihr auch das Klopfen eingesetzt: zur Impulsregulation, wenn irgendwas nicht ging, dann hab ich ihr das Klopfen gezeigt, also so eine Klopfakkupressur, aber ohne diesen energetischen Hintergrund, nur als Strategie zur Selbstberuhigung, und habe außerdem viel Selbstakzeptanztraining gemacht. Klar am Anfang auch Strukturierung, aber dabei immer auch wieder die Beziehung im Blick gehabt: Wie gestaltet sie Beziehungen, was hat sie für Beziehungserfahrungen? Und während ich das jetzt sage, fällt mir auf, dass ich da ganz nah bei Bernd Weinert bin.
B. Weinert: Klar. Du bist 80 Stunden mit ihr in Beziehung gewesen, und du hast sie 80 Stunden lang akzeptiert. Du musstest zwar korrigieren, aber deine Korrekturen waren nicht bestrafend oder frustrierend, sondern immer wieder auf der Seite der Bestätigung und damit haben wir das Integrative – an der Stelle berühren wir uns tatsächlich.
B. Jahn: Als ich das erste Mal darauf geguckt habe, bin ich mit diesem Caspar-Konzept daran gegangen, also mit dieser komplementären und motivorientierten Beziehungsgestaltung, um zu sehen, welches Bedürfnis sie verfolgt, was sie unbewusst für einen Plan hat. Daraus habe ich abgeleitet, wie ich das in der Beziehung so aufstellen kann, dass sie zu dieser Bedürfnisbefriedigung kommt. Also zum Beispiel habe ich da relativ viel Wert darauf gelegt, dass es leistungsfreie positive Verstärkung gibt. Also positive Verstärkung ohne Leistungsorientierung.
B. Weinert: Zu Elisabeth wollte ich noch etwas sagen: Diese Diagnose, sagtest du, entlastet auch. An irgendeiner Stelle in der Therapie, das sage ich auch bei anderen Patienten immer wieder, zitiere ich die alte Einstellung von Freud, der sagte, neben der Hälfte, die veränderbar ist, gibt es die andere Hälfte, die Konstitution, an der eigentlich nichts zu machen ist. An der Konstitution kann man nichts therapieren, damit muss man umgehen. Also einen Teil kannst du behandeln, mit einem Teil musst du aber auch leben lernen. Wer ein motorisch unruhiger Mensch ist, wird einen Teil davon immer behalten, damit muss er also hinkommen. Wo ist es also notwendig, dass du dich kontrollieren musst und nach einer guten Struktur suchst und wo ist das nicht unbedingt notwendig? Wo ist das vielleicht sogar dein Vorteil, dein Spezifisches, dass du immer gleich dort bist, wo es brennt und sofort handeln kannst? Also nicht jede Unaufmerksamkeit und jede Hyperaktivität stellt etwas Pathologisches dar, sondern immer nur in dem Kontext, in dem sie stattfinden.
R. Kriebisch: Ich hab mich eben noch mal gefragt, ob die Diagnose selbst entlastend für denjenigen ist oder inwieweit ich nur eine deskriptive Beschreibung von dem mache, von dem was überhaupt stattfindet und mit demjenigen bespreche und unter dieser Beschreibung mit ihm besprechen kann, dass er wahrscheinlich mit weniger günstigen Voraussetzungen beginnt, wenn er aber intensiv dran trainiert, dann letztendlich den anderen auch überholen kann und dann auf einem besseren Niveau ist. Ich frag mich so ein bisschen, ob das irgendwo entlastend ist, ich hab gerade gesucht und hab da immer so die Kinderdiagnosen vor mir, ADHS, zwei Kinder, die ich bisher behandelt hab, bei denen fand ich das ‘ne ganz ungünstige Sache in dem Elternkontext auch, so wie die an sich vorbeigeredet haben, im Kontext dieser Diagnose und was die alles so gemacht haben und die Schwierigkeiten somit über eine Lebensspanne aufrechterhalten haben. Vielleicht hast du ja noch ein besseres Beispiel, wo etwas klarer wird, dass die Diagnose etwas Entlastendes sein könnte. Ich könnte mir vorstellen, dass man bei Prüfungsfragen oder bei gutachterlichen Stellungnahmen dem Betroffenen auch entgegenkommt, aber in der direkten therapeutischen Arbeit, da weiß ich nicht …
E. Reichel: Ich denke, da geht es vorrangig um Schuldgefühle, um eine Entlastung von Schuldgefühlen auch im sozialen Umfeld, also Eltern, Geschwister, da gibt’s ja auch immer wieder den latenten Vorwurf, irgendwo gab's Kommunikationschwierigkeiten, möglicherweise eine mangelhafte Erziehungskompetenz, mangelnde Grenzsetzung und so weiter, und deshalb verhält sich so das Kind oder der junge Erwachsene und damit quälen sich natürlich Eltern und Geschwister und die Betroffenen selbst und da kann das durchaus eine Entlastung sein, dass sie eben anders sind. Das heißt nicht, dass sie nur ein großes Defizit haben, das hat ja auch immer zwei Seiten: Es wird immer auf die negative Seite geschaut und das unglaublich kreative Potenzial, das wird häufig übersehen. Und ich finde es ganz wichtig daran zu arbeiten, und da finde ich: Wenn das gelingt, dann kann AHDS als Diagnose auch eine Chance sein. Zu sagen: Ja, da gibt’s Schwierigkeiten auf der einen Seite, die erfordern sehr viel Kraft, die erfordern sehr viel Engagement seitens aller Beteiligten, bei Kindern und eben auch bei Eltern, Geschwistern, im Erwachsenenalter bei Partnern und im Freundeskreis, Arbeitskollegen, wer auch immer … auf der anderen Seite ist das natürlich ein unglaubliches Potenzial, also, wenn ich auf dein Beispiel zurückkomme: Was muss so ein junger Mann aufbringen, um so ein Studium zu schaffen mit den Konzentrationsschwierigkeiten und den Strukturproblemen, die er hat. Was ist das für ein unglaublicher Schritt, das zu schaffen, auf der anderen Seite, was steckt da sonst noch dahinter, also die sind ja häufig hochbegabt, das sind so die zwei Seiten …
R. Kriebisch: Klar versteh‘ ich, auf der anderen Seite versteh‘ ich unter der Diagnose auch was sehr Statisches, also was Festschreibendes und deswegen bevorzuge ich immer die Beschreibung von Verhaltensweisen, S1-Analyse und was das Schöne ist, man kann dann situationsbezogen differenzieren, in bestimmten Kontexten ja; in anderen Kontexten nein. In der Diagnose liegt immer was sehr Globalisierendes, wo ich schon auch von der Differenzierung denjenigen anleiten kann, wo und unter welchen Bedingungen er so ein Verhalten zeigt, für sich auch eher erkennen kann, meines Erachtens, als wenn er diese Diagnose bekommt und sich implizit danach verhält, so als wenn er „ich bin so” zu sich sagt. Ich kenn‘ das von Patienten, die kommen und sagen: „Ich hab eine Depression …” Ich frag‘ dann immer: „Haben Sie die mit? Kann ich die mal sehen?”
E. Reichel: Also von der Seite müsste ich mich als systemische Therapeutin eher schämen, so eine Diagnose überhaupt zu stellen … Aber gerade bei ADHS haben sich Experten auch aus dem systemischen Kontext eher dazu verständigt, zu sagen, ja, der Freispruch von Schuld kann auch hilfreich sein …
R. Kriebisch: Gilt das eher für den Bereich der Therapie von Kindern oder auch für den Erwachsenenbereich?
E. Reichel: Also ich hab das jetzt eher für den Kinderbereich formuliert, aber für die Kinder selbst gibt es natürlich Bilder, die das beschreiben: Daniel Düsentrieb, Angela Aktiv und so …
B. Jahn: Aber du verstärkst damit, was die Diagnose so mit sich bringt … ich denke, das ist so eine Sache mit zwei Seiten, … also therapeutisch gesehen, finde ich das jetzt nicht so dramatisch, wenn jemand mit der Diagnose kommt. Weil ich als Therapeut ja erst einmal versuche, den Patienten von diesem Defizitkonzept wegzubringen in ein Kompetenzkonzept, wie es gerade so schön geschildert wurde, dass da eben nicht nur Defizite, sondern auch Chancen drinstecken, wenn eben eine Nische gefunden wird. Eine weitere Patientin, die ich behandelt habe, die landete nämlich in so einer Nische, auch im beruflichen Kontext, wo sie sich mit dieser kreativen Art und trotz ihrer schwierigen Kontaktgestaltung als kompetent erleben konnte und dadurch ein Erfolgserlebnis hatte und am Schluss sogar sagte, na ja, wenn ich diese Geschichte nicht gehabt hätte, wäre ich da vielleicht gar nicht hingekommen. Es war einfach auch ein Stück Weg und Arbeit, das für sich zu finden, wo sie mit ihren Besonderheiten, eben nicht ausschließlich Defiziten, sondern auch Kompetenzen, ihren Raum füllen kann.
Wir haben am Anfang überlegt, als wir über das Heft nachgedacht haben, ob es noch Menschen gibt, die sagen: „ADHS – gibt es das eigentlich?” Also eine der ersten Ideen war, das mit einem Fragezeichen zu versehen und ich würde gern hören, was Sie dazu sagen würden: „Das gibt’s?” oder „Das ist ein Konstrukt” oder würden Sie sagen, „Das ist so etwas wie ein modernes Spiel, was man mal ,Monopoli‘ nennen kann und mal ,Leipzig sucht den neuen Bürgermeister‘”?
B. Weinert: Ronny hat das ja schon angedeutet, er kommt gar nicht auf die Idee, diese Diagnose zu stellen, erst in der zweiten Instanz, beim Nachdenken, „Was hat er denn nun eigentlich?” und dann schlägt er seine ICD auf, und dann sieht er mal, was da drin steht zu dem Thema und … irgendwie rutscht die Diagnose in die zweite Reihe, unter all der Dynamik fällt sie irgendwie in die zweite Reihe, finde ich …
B. Jahn: Also ich denke, wenn man das so sieht, dann müsste man ja alles infrage stellen. Weil Diagnosen symptomatische Beschreibungen sind, aber gerade bei ADHS gibt es ja auch besonders viel Forschung und daher denke ich, diese Diagnose gibt es, insbesondere wenn man das als Symptomkomplex benennt. Vielleicht gibt’s das nicht ganz so oft, wie es diagnostiziert wird, aber ich denke, da gibt’s harte Kriterien und da gehört aber auch eine saubere Diagnostik dazu und dann finde ich auch bei dieser Diagnose eine gezielte Medikation durchaus hilfreich. Also die Diagnose als solche kann ich meiner Meinung nach nicht stellen, aber wenn jetzt jemand zu mir kommt und es wurde festgestellt, dann würde ich in der Beziehung mit dem Patienten herausarbeiten: „Was braucht der jetzt?” Weil da ja keine ADHS kommt, da kommt mit der ADHS ein Mensch, der mit dieser Störung ganz individuell umgeht und das finde ich ganz wichtig zu berücksichtigen. Also ich finde, diese Diagnose gibt‘s und wenn sie denn gut diagnostiziert ist, gehört sie auch gestellt.
B. Weinert: Da gibt es ja auch einen gesellschaftlichen Teil des Begriffs und dieser steht gewissermaßen als Schreckgespenst vor leistungsorientierten Eltern und wird durch Medien, also Zeitungen und Fernsehen, eigentlich schlimmer gemacht als es ist. Zum Schluss gibt es nur ein lebendiges Kind, das sich nicht konform verhält. „Mein Kind ist anders” also ist es krank, das spielt auch noch eine Rolle und das wird man aber mitkriegen, dass an der Stelle Entschärfung angesagt ist.
H.-U. Wilms: Da geht es mir so wie mit dem Borderline-Begriff: Einerseits wird die Diagnose zu häufig gestellt, andererseits ist das Störungsbild vermutlich viel häufiger als wir denken. Es wird sicher Biografien geben, in denen die Symptome keine große Rolle mehr im Erwachsenenalter spielen, oder indem jemand akzentuierte Kompensationsstrategien entwickelt hat, etwas um das Defizit besonders gut zu kompensieren. Wir sehen unter dem ADHS-Begriff im Erwachsenenalter ja in der Regel Menschen, die gar keine oder nur wenig Kompensationsstrategien entwickelt haben und möglicherweise noch Ausbildungswege gegangen sind oder Partnerschaften eingegangen sind, die sie dazu gebracht haben, so richtig in ihre Defizite reinzurutschen. Das ist der Teil, den wir sehen. Verdecktere Symptomatiken kriegen wir vermutlich gar nicht zu sehen. Ich glaube nicht, dass sich da etwas „auswächst”, aber ich denke, dass sich vielfach im Erwachsenenalter Kompensationsstrategien entwickelt haben, dass man es von außen nicht mehr mitbekommt. Wenn man so über ADHS nachdenkt, dann interessieren natürlich die Verläufe, in denen Kinder in einem Umfeld aufwachsen, in denen sie mit diesen Teilleistungsschwächen keine Schwierigkeiten oder nur geringe Schwierigkeiten haben, und die Frage: was können wir von diesen Verläufen für die Kinder lernen, die ihre Defizite ständig durch mehr Leistung und mehr Übung verbessern sollen und letztlich auch dadurch diese Defizite immer deutlicher verstärken.
Aber wird daran nicht deutlich, warum sich viele Therapeuten mit Kindern und ADHS beschäftigen und relativ wenige Menschen, die sich mit Erwachsenen beschäftigen? Könnte darin nicht die Idee stecken, je früher wir es erkennen, umso mehr können wir dafür sorgen, dass Menschen nicht Teil einer Diagnose sind und dann im Erwachsenenalter auch noch zu Therapeuten gehen müssen. Vielleicht macht das auch noch mal deutlich, warum es diesen Fokus auf die Kindertherapeuten gibt. Und ich würde schon sagen, dass es gemessen an der Häufigkeit der Symptomatik Versorgungsdefizite gibt. Ich würde schon unterstellen, dass es Versorgungsdefizite gibt für Menschen, die im Erwachsenenalter mit dieser Symptomatik einen Therapeuten suchen.
B. Weinert: Absolut.
R. Kriebisch: Für Fragen der Versorgung und der Bereitstellung von Hilfen ist das Benennen der Diagnose, und damit ja auch die Frage, wie viele Menschen es betrifft, sehr wichtig. Bei Kindern sind die Auffälligkeiten vielfach ja auch so erheblich, dass da kaum ein Zweifel daran besteht, dass diese Diagnose zu stellen ist. Das Problem ist ja, dass die Grenzen immer enger werden, und dass Eltern kommen und sagen: Mein Kind ist auch immer ein bisschen unkonzentriert und könnte es nicht Ritalin bekommen und wenn sich das dann fortsetzt, stelle ich mir schon die Frage, ob sich das dann irgendwann aufhebt, weil zum Beispiel nahezu jedes Kind Ritalin bekommt. Da wäre dann die Frage, wie man in zehn oder 20 Jahren auch über diese Diagnose bei Erwachsenen spricht.
H.-U. Wilms: Ich fühle mich weiterhin darin bestärkt, von den Entwicklungen zu lernen, in denen Erwachsene, die im Kindesalter mit einer ADHS-Symptomatik zu tun hatten, positive Entwicklungen genommen haben, und daraus therapeutische Strategien abzuleiten, um unsere Kompetenzen an dieser Stelle zu ergänzen.
R. Kriebisch: Das sind aber dann Menschen, denen man wohl nicht die Diagnose ADHS geben würde.
B. Jahn: Für mich unterstützt das noch mal die Hypothese, dass die Frage „Diagnose: ja oder nein” oder vielmehr „Symptom: ja oder nein” auch mit der Frage zu tun hat, wie und in welchem Umfang die Umwelt in der Entwicklung in der Lage war, Kompensationsstrategien zu fördern. Und dann würde es tatsächlich Sinn machen, Eltern zu schulen, weil das dann vermutlich die beste Möglichkeit ist, diese Diagnose dann nicht mit in die Adoleszenz und bis ins Erwachsenenalter mitzunehmen.
H.-U. Wilms: Das hieße dann, ADHS ist eine Diagnose für Kinder und für Eltern.
B. Weinert: Immer, würde ich sagen. Aus der tiefenpsychologischen Sicht ist das sehr deutlich, weil dies ja auch die Beziehungsgestaltung dramatisch beeinflusst.
E. Reichel: Ich denke, die schwierige Beziehung ist ja auch dadurch geprägt, dass Kinder, die vom Säuglingsalter an anders sind, eine besondere Herausforderung für Eltern darstellen. Das macht es halt auch sehr schwer, die Bindung positiv zu gestalten. Es kommt dann vermutlich auch eher dazu, dass das gesamte familiäre Muster gestört ist; und das schon von Beginn an, weil das Kind sich eben anders verhält.
B. Jahn: Das muss ja nicht so sein; möglicherweise ist das „Ei” aber schon gelegt, wenn wir die Tür zu unserer Praxis aufmachen, weil ja schon eine ganze Menge passiert ist, bis die Kinder auffällig werden und zur Therapie gebracht werden.
E. Reichel: Also die Mütter, die sagen, dieses eine Kind, wenn sie beispielsweise mehrere Kinder haben, dieses eine Kind war vom Säuglingsalter an anders. Und dieses Kind wird dann als ganz große Herausforderung beschrieben. Was die Familien da teilweise mitgemacht haben, ehe die Diagnose gestellt wird, das ist vielfach ein ganz schwerer Weg. Und da verändern sich natürlich auch die Interaktionen zwischen Mutter und Kind, ganz klar, das ist beidseitig.
B. Weinert: Das ist, was Freud unter „Konstitution” beschreibt: Das Kind ist eben anders und jetzt prallt das auf die Vorstellungen der Mutter, die ihre Erfahrungen mit anderen Kindern hat. Und dann ist ein Konflikt da. Abgesehen davon, dass ja, wenn das Kind anders ist, und dann die Eltern das nicht als Herausforderung sehen, sondern als Abartigkeit, das natürlich noch Schlimmeres ergibt. Wenn sie sagen: „Unser Kind ist anders, was machen wir denn nun?”, ist das ein wunderbarer Ansatz, aber wenn sie sagen: „Unser Kind muss so werden, wie die anderen Kinder drum herum!” dann ist das natürlich gefährlich.
E. Reichel: Schon die Aussage: „Dieses Kind war schon immer ein schwieriges Kind”…
B. Weinert: Das ist das Gleiche, was wir in der Medizin haben: „Ich habe einen schwierigen Patienten!” und ich sage dann immer „Wer ist der Schwierige? Der Patient oder der Arzt?”
Um noch einmal den Bogen zu den erwachsenen Patienten zu spannen: Wenn Sie Ausbildungskandidaten beraten müssten, worauf man bei Menschen im Erwachsenenalter achten sollte, wenn sie mit Symptomen kommen, die man auch als ADHS beschreiben könnte, was würden Sie denen sagen?
B. Weinert: Mir wäre wichtig, denjenigen zu fragen, ob er das an sich selber schon in irgendeiner Weise erlebt hat, wo er zu diesem Thema mit sich selbst Erfahrungen hat. Das halte ich für das Wichtigste. Denn unter diesem Gedanken, dass ich es schon mal erlebt habe, dass ich hyperaktiv war, dass ich unaufmerksam war, und dann auch ungefähr weiß warum, dann weiß ich, das gibt’s, das kenn‘ ich, das ist mir auch schon passiert, ich kann mein Gegenüber verstehen. Bei dem oder der ist es offensichtlich viel schlimmer als bei mir, denn ich musste deswegen nicht in Therapie gehen, aber bin Therapeut geworden … Also die Verstehbarkeit ist für mich eine zentrale Frage: Ich muss irgendwie verstehen, warum der oder die so ist.
R. Kriebisch: Also wenn du Verstehbarkeit sagst, da fällt mir eher die Veränderbarkeit und die Beeinflussbarkeit des Ganzen ein, also an dem Beispiel „Wie bin ich damit umgegangen?” könnte ich mir vorstellen, wenn man so einen Selbstrating-Fragebogen ausgibt, da werden sich sicher 60 bis 70 % der Menschen auch irgendwie wiederfinden und dann aber auch sagen können, wie sie damit klargekommen sind.
B. Weinert: Wobei ich meine Erfahrung nicht in der Therapie benennen muss, rüberbringen schon, aber nicht explizit benennen muss.
H.-U. Wilms: Für mich ist das schwierig, da ich ADHS als organische Störung verstehe. Und mir wäre es wichtig, jemandem zu vermitteln: Du willst hier etwas verstehen, was du nicht verstehen kannst, weil du dieses Defizit nicht hast. Ich denke, Menschen, die von ADHS betroffen sind, haben ein Defizit, und das ist nicht durch Lernen zu trainieren oder zumindest einiges davon ist durch Lernen nicht zu trainieren. Vielmehr wird von Lerndurchgang zu Lerndurchgang deutlich, je mehr ich lerne, umso mehr lerne ich, dass ich das überhaupt nicht kann. Wenn ich das einem jungen Kollegen vermitteln möchte: Das ist, wenn ich einem Menschen gegenübersitze, dann hab‘ ich so nach drei oder vier Therapiestunden so eine komische Idee, bei diesem Menschen sind die Dinge anders, als bei den Menschen, wo ich als Therapeut vielleicht sagen würde, der oder die hat eine Persönlichkeitsakzentuierung. Und wenn ich das in der Selbsterfahrung irgendwie umsetzen sollte, dann würde ich sagen: „Stell dir vor, du sollst etwas lernen, was du nicht kannst!” Zum Beispiel mit einem Bein etwas zu tun, was zwingend zwei Beine erfordert … oder irgendwie deutlich machen: „Du kannst etwas nicht! Und das ist auch in Ordnung, dass du es nicht kannst. Und wenn du es nicht kannst, ist es einfach wichtig, dieses ,Loch‘ über Umwege mehr oder weniger gut zu stopfen.”
B. Weinert: Der Unterschied zwischen uns ist, dass ich immer wieder die Beziehung in den Mittelpunkt stelle. Ich habe da das Bild von einem Baum: Der Patient kann sich um mich herumwinden. Wenn er es nicht kann, ist er nicht therapiefähig, wenn er kommt, kann er sich an mir orientieren. Ich versuche es so, indem ich sage: „Ich hab diese Störung nicht – ich sehe bei dir ein Loch. Ich kann dir stopfen helfen.”
H.-U. Wilms: Eher: „Wie kann ich dir helfen, dass du nicht ständig in dieses Loch hineinfällst – können wir ein Brett drüber legen oder was brauchst du um drumherum zu gehen, welche Hilfe brauchst du, um nicht immer wieder in dieses Loch hineinzufallen?”
B. Jahn: Dazu ist mir wichtig festzustellen, dass ich nicht aus dem 16. Stock springen muss, um zu wissen, dass es wehtut, wenn ich unten ankomme. Aber dieser Gedanke mit dem Loch ist mir auch zu hirnorganisch. Ich würde da eher ressourcenorientiert schauen, was dieser Mensch neben seinen Defiziten auch an Kompetenzen hat. Und ich würde auch an der Beziehung arbeiten, weil diese Menschen ja ganz typische Beziehungserfahrungen machen und darauf auch ihre, so wie wir sagen würden, dysfunktionalen Bewältigungsstrategien aufbauen. Jemandem, der Anfänger ist, würde ich sagen: „Wappne dich, bleib in der Beziehung und sorge an dieser Stelle aber auch gut für dich, dass du das aushältst. Und wenn du das Gefühl hast, dass die Beziehung nicht klappt, schicke ihn oder sie weg – aber das würde ich immer sagen, auch bei Patienten, die nicht mit Symptomen kommen, die etwas mit ADHS zu tun haben könnten.”
B. Weinert: Vorher, also bevor ich einen anderen Kollegen oder eine andere Kollegin empfehle, müsste ich selber sehen, was bei mir nicht funktioniert hat, da wäre eine Supervision nötig, aber wenn das nicht zu klären wäre, wäre der Schritt dran.
B. Jahn: Klar, aber wenn das mit Supervision nicht zu klären wäre, dann würde ich ermuntern zu sagen: „Stiehl dem Patienten nicht die Zeit!”, weil die Beziehungserfahrung wirkt und wenn das nicht klappt, ist es besser, wenn der Patient in einem Kontext arbeiten kann, der hilfreicher für ihn oder sie ist.
E. Reichel: Also mir wäre auch wichtig, das Umfeld mit einzubeziehen. Insbesondere, weil ich denke, dass das Leid des sozialen Umfelds auch nicht zu unterschätzen ist und das macht wiederum einen starken Leidensdruck. Manchmal spürt ja der oder die Betroffene das Leiden gar nicht so, oder kommuniziert das zumindest nicht so, aber das Umfeld ist stark betroffen und mir wäre wichtig, das immer im Blick zu haben, nicht den Menschen allein zu sehen, sondern immer zu schauen, wie das Umfeld damit umgeht und diese Menschen auch zu stärken und zu stabilisieren und sie in die Lage zu versetzen, in Beziehung zu bleiben.
R. Kriebisch: Also aus verhaltenstherapeutischer Sicht geht es ja auch viel um Regeln und um Rahmenbedingungen: also beispielsweise Pünktlichkeit oder eine bestimmte Ordnung im Therapieablauf; bei diesen Themen sollte man schon als Therapeut eine gewisse Toleranzbreite mitbringen und ich glaube diese Vorstellung davon, sich selbst zu überprüfen, wie tolerant ich bin oder wie schnell ich dabei bin, so etwas wie einen Therapievertrag unterzeichnen zu lassen. Oder ob man den Patienten dort abholen kann, wo er ist; also auch die Frage, was meine eigenen Ressourcen zulassen. Da spielen für mich auch wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle, also wenn jemand die vereinbarte Stunde nicht wahrnimmt. Gleichzeitig bin ich kein Freund von Therapieverträgen, die ich mit Nachzahlungen rechtlich auch nicht eindeutig finde. Manchmal geht es auch um die Frage, was ich mir da zumuten will, im Therapeutenalltag.
Gibt es irgendwas, was noch gesagt werden sollte, bevor das Interview zum Abschluss kommt?
B. Weinert: Das fällt mir ein, wenn das Interview abgeschlossen ist!
Dann herzlichen Dank Ihnen allen für dieses Gespräch!!