Notfallmedizin up2date 2011; 6(4): 249
DOI: 10.1055/s-0031-1280328
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Blut, Blech und Strukturen

Von der Leitplanke zur Leitlinie – wichtige Schritte zur evidenzbasierten präklinischen Schwerverletztenversorgung
Bernd W. Böttiger
,
Steffen Ruchholtz
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. Dezember 2011 (online)

Jedes Jahr erleidet eine Vielzahl an Menschen in der Bundesrepublik Deutschland eine schwere Verletzung, ob nun im Rahmen von Verkehrsunfällen, Stürzen oder Freizeitunfällen.

Gemäß des 2007 verabschiedeten Eckpunktepapiers zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in Präklinik und Klinik sollen Schwerstverletzte spätestens nach 60 min in einem Krankenhaus aufgenommen werden. Ihre operative Versorgung soll nach 90 min begonnen werden. Bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma sollen eine kraniale Computertomografie (CCT) spätestens nach 60 min durchgeführt und mit einer operativen Intervention nach spätestens 90 min begonnen werden [1]. Hierzu muss die notfallmedizinische Versorgung dieser Patienten „Hand in Hand“ erfolgen, denn im Notfall zählt jede Sekunde.

Um eine optimale Versorgung zu ermöglichen und der Vielzahl an der Versorgung Beteiligter einen adäquaten Handlungsleitfaden zu vermitteln, gab es in Deutschland bereits einige konzentrierte Bemühungen, insbesondere von Seiten der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU):

  • 2001/2002 wurde die S1-Leitlinie Polytrauma durch die DGU publiziert [2].

  • 2006 wurde das Weißbuch „Schwerverletzten-Versorgung“ durch die DGU publiziert [3] und damit detaillierte Vorgaben zur Struktur und Organisation der klinischen Polytraumaversorgung in Deutschland etabliert.

Mit dem Ziel, jedem Schwerverletzten in der BRD rund um die Uhr die bestmögliche Versorgung unter optimalen Qualitätsmaßstäben zu ermöglichen, wurde im Weiteren das TraumaNetzwerk DGU® (www.dgu-traumanetzwerk.de) eingeführt, um die Inhalte des Weißbuchs flächendeckend in unserem Land umzusetzen.

Um diese Aktivitäten auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen, erfolgte nun unter Federführung der DGU die Entwicklung der interdisziplinären S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“.

Nach intensiver Arbeit, an der sich neben der DGU auch die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und 10 weitere Fachgesellschaften beteiligt haben, konnte diese interdisziplinäre und auf dem höchsten Evidenzniveau entwickelte Leitlinie am 22. 7. 2011 auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF, www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/012-019.html) publiziert werden. Dabei spricht diese Leitlinie alle an der Versorgung beteiligten Fachdisziplinen, Fachpflegekräfte und nichtärztliches Rettungsdienstpersonal an.

Die Entwicklung der S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“ war harte Arbeit, dauerte insgesamt 7 Jahre und umfasste 5 Leitlinienkonferenzen. Ein Delphiverfahren erfolgte für Empfehlungen, für die in den Konsensuskonferenzen kein Konsens erzielt werden konnte. Als Ergebnis der systematischen Literaturrecherche mit kritischer Evidenzbewertung von mehr als 90 Leitlinienautoren stellt die 445 Seiten umfassende S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“ die verfügbaren Daten zu diesem Thema mit wissenschaftlichen Methoden dar. Die S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“ umfasst die relevante Literatur zum Thema und präsentiert mit ihren Kernaussagen entsprechend klare und prägnante Empfehlungen zur Versorgung polytraumatisierter und schwerverletzter Patienten auf höchstem wissenschaftlichen Evidenzniveau.

Die Kernaussagen aus dem S3-Leitlinientext beruhen auf den 3 Empfehlungsgraden (Grade of Recommendation, GoR) „A“, „B“ oder „0“ [4]. Die Formulierungen in den Kernaussagen lauten daher entsprechend „soll“ (GoR A), „sollte“ (GoR B) oder „kann“ (GoR 0). In die Festlegung des GoR wurden neben der zugrunde liegenden Evidenz auch Nutzen-Risiko-Abwägungen, Direktheit und Homogenität der Evidenz sowie klinische Expertise und die Diskussion von Experten in einem formalen Konsensusverfahren einbezogen. Die meisten Empfehlungen wurden im „starken Konsens“ (Zustimmung von > 95 % der Teilnehmer) verabschiedet.

Inhaltlich umfasst die S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“ die prähospitale, die frühe innerklinische (Schockraum-) und die 1. operative Phase.

Die in dieser Ausgabe von Notfallmedizin up2date publizierten Leitlinien-Artikel bilden in leicht gekürzter und gut lesbarer Form die relevanten Inhalte zur Prähospitalphase in den Bereichen Atemwegsmanagement, Beatmung und Narkose, Volumentherapie, Thoraxtrauma, Schädel-Hirn-Trauma, Wirbelsäulen- und Extremitätentrauma ab.

Wir sind davon überzeugt, dass die vorliegende S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletztenbehandlung“ erheblich zu einer weiteren Verbesserung der Versorgung polytraumatisierter Patienten und zur Intensivierung der interdisziplinären Zusammenarbeit in der präklinischen und klinischen Behandlung beitragen wird.

Zoom Image
Prof. Dr. med. Bernd W. Böttiger, Köln
Zoom Image
Prof. Dr. med. Steffen Ruchholtz, Marburg
 
  • Literatur

  • 1 Anonymous Eckpunktepapier zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in Klinik und Präklinik. Notfall Rettungsmed 2008; 11: 421-422
  • 2 Stürmer KM, Dresing K, Bonnaire M et al. Polytrauma – Leitlinie für die Diagnostik und Therapie. Unfallchirurg 2001; 104: 902-912
  • 3 Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie. Weißbuch Schwerverletzten-Versorgung – Empfehlungen zur Struktur, Organisation und Ausstattung stationärer Einrichtungen zur Schwerverletzten-Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie; 2006
  • 4 Council of Europe. Developing a Methodology for drawing up Guidelines on Best Medical Practices: Recommendation Rec (2001) 13 adopted by the Committee of Ministers of the Council of Europe on 10 October 2001 and explanatory memorandum. Strasbourg Cedex: Council of Europe; 2001