Fortschr Neurol Psychiatr 2011; 79(10): 559-560
DOI: 10.1055/s-0031-1281735
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ethik und die Neurowissenschaften: Beitragsreihe Neuroethik

Ethics and Neuroscience: Article Series NeuroethicsC. Woopen1 , K. Vogeley2
  • 1Forschungsstelle Ethik am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinik Köln
  • 2Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinik Köln
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Publication Date:
11 October 2011 (online)

Ärztliches Handeln ist immer maßgeblich geprägt von ethischen Überlegungen, die Nutzen und Risiken von diagnostisch oder therapeutisch motivierten Eingriffen am menschlichen Organismus gegeneinander abwägen müssen. Dies schließt natürlich auch die Fachgebiete der Neurologie und Psychiatrie mit ein. Diese beiden Bereiche sind aber zugleich in ganz besonderer Weise exponiert. Mit Eingriffen ins Gehirn werden potenziell Fähigkeiten und Fertigkeiten manipulierbar, die vermutlich nur uns Menschen als Gattung zu eigen oder zumindest bei uns hoch entwickelt sind. Hier sind Phänomene wie Selbst- und Zeit-Bewusstsein, Sprache oder die Fähigkeit zur sozialen Interaktion zu erwähnen. Das Gehirn stellt außerdem die unverzichtbare natürliche Grundlage unserer Urteils-, Einwilligungs- und Moralfähigkeit dar.

Zwar wurde über ethische Fragen aus dem Bereich der klinischen Neurowissenschaften schon länger nachgedacht und geschrieben. Es war jedoch William Safire, einem Journalisten der New York Times, vorbehalten, im Rahmen eines Kongresses der Dana Foundation in San Francisco 2002 den offiziellen Begriff zu prägen [1]. Seither hat sich das Themenspektrum der Neuroethik stets erweitert – nicht nur in der wissenschaftlichen Domäne, sondern ebenso in der öffentlichen Diskussion. Neurowissenschaftliche Konzeptionen und Untersuchungen finden mittlerweile in ganz verschiedenen Kontexten Anwendung: So wurden bildgebende Verfahren des Gehirns in Einzelfällen bereits bei der Wahrheitsfindung in Gerichtsverfahren herangezogen, oder es wird versucht, pädagogische Programme für die Schulausbildung neurowissenschaftlich zu validieren. Im Rahmen der breit geführten, öffentliche Debatte, ob es angesichts des Nachweises von unseren Willensäußerungen zeitlich vorgängigen neuralen Prozessen überhaupt einen „freien Willen” geben könne, ist gar die Notwendigkeit der Änderung des Strafrechts diskutiert worden: Wenn es keinen „freien Willen” gebe, müsse auch die Schuldfähigkeit infrage gestellt werden. Dies sind nur einige Stichworte, die verdeutlichen, dass neuroethische Fragen uns alle angehen, und zwar weit über den Bereich der gesundheitlichen Versorgung hinaus.

Im Hinblick auf diese der Art nach ganz unterschiedlichen Fragestellungen hat die amerikanische Philosophin Adina Roskies eine grundlegende Differenzierung eingeführt: Sie unterschied die „Ethik der Neurowissenschaften” („Ethics of Neuroscience”) von der „Neurowissenschaft der Ethik” („Neuroscience of Ethics”). Geht es bei ersterer um die ethischen Implikationen der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, Forschungen und Anwendungen, die uns auch im ärztlichen Alltag ständig begegnen, werden bei letzterer die Grundlagen der Ethik selbst, die personale Identität, unsere Handlungsintentionen, unsere Willensbildung sowie unser Entscheidungsverhalten zum legitimen Gegenstand neurowissenschaftlicher Methoden [2]. Wenngleich gerade die zweite Fragerichtung grundlagenwissenschaftliche Aspekte besonders stimuliert hat, wenden wir uns in der Beitragsreihe Neuroethik dem ersten Bereich zu und nehmen verschiedene Themen in den Blick, die ethische Aspekte der Neurowissenschaften und ihre klinischen Anwendungen beleuchten.

Um die neuroethische Diskussion in Deutschland interdisziplinär zu fördern und international zu vernetzen, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Jahr 2006 nach Ausschreibung und internationaler Begutachtung fünf Verbundprojekte mit Forschern aus Deutschland, Kanada und Finnland im Rahmen der Neuroethik-Initiative finanziert. Die Autoren dieses Gasteditorials koordinieren jeweils eines dieser Projekte und haben im Wintersemester 2010 / 11 an der Uniklinik Köln eine Ringvorlesung veranstaltet, in deren Rahmen alle 5 Projekte vorgestellt und aus jeweils zwei wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert wurden.

Die einzelnen Beiträge der Ringvorlesung werden in den kommenden Monaten in den „Fortschritten” publiziert. Im Rahmen dieser geförderten Verbundprojekte werden verschiedene Themen vorgestellt, die in besonderer Weise einer neuroethischen Reflexion und Bearbeitung bedürfen. Allerdings ist damit das gesamte Feld der Neuroethik als der „Ethik der Neurowissenschaften” keineswegs erschöpfend, sondern nur exemplarisch vorgestellt: Ob Gehirnbilder Bilder des Geistes sind oder was sie wirklich zeigen, wird aus psychiatrisch-philosophischer und wiederum aus juristischer Sicht beleuchtet. Philosophisch sowie neurologisch wird diskutiert, ob wir – Stichwort Neuroenhancement – unser Gehirn optimieren sollen. Aus ethischer und psychiatrischer Sicht wird danach gefragt, ob sich durch den Eingriff der Tiefen Hirnstimulation in das Gehirn die Person verändert. Und nicht zuletzt wird eine besondere menschliche Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit zur sozialen Interaktion oder zum Verständnis anderer unter neuroethischen Gesichtspunkten besprochen.

Im ersten Aufsatzpaar wird im vorliegenden Heft am Beispiel des Wachkomas aus medizinischer sowie juristischer Perspektive der Frage nachgegangen, wie wir mit Patienten bei chronischen Bewusstseinsstörungen umgehen sollen. Ralf Jox [3] zeigt eindrucksvoll auf, wie unsicher ärztliche Therapieentscheidungen bei Wachkoma sind, das zutreffender als „Syndrom areaktiver Wachheit” bezeichnet werden sollte. Vor dem Hintergrund aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere aus bildgebenden Verfahren, erläutert er die Bedeutung der Diagnostik für Prognose und gut begründete ärztliche Therapieschritte in der weiteren Behandlung. Unter Bezugnahme auf den (mutmaßlichen) Willen des Patienten und auf die Fürsorge- sowie Nichtschadenspflicht des Arztes stellt er die letztlich gemeinsam von Arzt und Angehörigen zu tragende Verantwortung für die Entscheidung über Fortführung oder Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen im Einzelfall heraus.

Diese stößt in ihrer Legitimation gemäß dem Medizinrechtler Gunnar Duttge [4] jedoch an Grenzen und fordert den Gesetzgeber heraus. Zwar betont er den unbestrittenen Geltungsanspruch der Patientenautonomie, die mit einer – mittlerweile gesetzlich geregelten – Patientenverfügung zum Ausdruck gebracht und durchgesetzt werden kann. Er verweist jedoch andererseits auf ein nicht unerhebliches Element möglicher Fremdbestimmung bei der Umsetzung des Patientenwillens durch Fehldeutungen und den Einfluss eigener Vorstellungen desjenigen, der ihn zu erheben hat – selbst dann, wenn eine schriftliche Patientenverfügung vorliegt. Hinzu kommen die Schwierigkeiten der ärztlichen Indikation, die zunächst gegeben sein muss, damit sich die Entscheidungsmöglichkeit gegen eine Therapie überhaupt eröffnet, wobei die Maßstäbe für die Indikationsstellung selbst nicht rein medizinischer Art sind, sondern immer auch auf Werten und Normen beruhen. In Zeiten knapper werdender Ressourcen im Gesundheitswesen eröffnet sich hier ein gravierendes Konfliktpotenzial.

Wir danken allen Autoren der Beitragsreihe Neuroethik für ihr Engagement bei den Vorträgen sowie die Mühe, diese in eine publizierbare Form zu bringen. Wir sind außerdem den Herausgebern der „Fortschritte” und dem Thieme-Verlag außerordentlich dankbar, dass sie dem jungen Gebiet der Neuroethik diesen Raum geben und eine ganze Vorlesungsreihe publizieren, die diese wichtigen Themen auch den klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen nahebringen soll. Dabei ist nicht zu erwarten, dass jeweils im Sinne eines einfachen Fazits klare Handlungsanweisungen für einzelne Fallkonstellationen als Ergebnis zutage treten. Vielmehr soll damit eine dringend nötige, ethische Debatte und Reflexion sichtbar gemacht werden, die sich bisher nur in kleinen Kreisen abspielt, tatsächlich aber eine sehr breite Öffentlichkeit von klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen in den Fachgebieten der Neurologie und Psychiatrie betreffen.

So bleibt zu wünschen, dass die Aufsätze einen Beitrag leisten können zu der so wichtigen Diskussion sowohl zwischen den klinisch-medizinischen und den geisteswissenschaftlichen Fächern als auch jeweils zwischen der Grundlagenforschung und den Anwendungsdisziplinen im Bereich der Neuroethik. Technische Entwicklungen ermöglichen immer neue Einblicke und Eingriffe in das menschliche Gehirn. Sie konfrontieren uns mit der Frage, was wir über uns selbst wissen können, was wir wissen möchten und wie wir dieses Wissen einsetzen wollen. An dieser Diskussion sollten sich alle beteiligen. Wünschenswert wäre darüber hinaus die Fortsetzung der Neuroethik-Förderung des BMBF, um die entstandenen Fortschritte und Vernetzungen weiterentwickeln und ausbauen zu können.

Wir wünschen Ihnen interessante Anregungen und viel Spaß bei der Lektüre!

Prof. Dr. Christiane Woopen

Univ.-Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley

Literatur

  • 1 Safire W. Visions for a New Field of „Neuroethics”. In: Glannon W, (ed.) Defining Right and Wrong in Brain Science, Essential Readings in Neuroethics. 2007: 7-11
  • 2 Roskies A. Neuroethics for the New Millenium.  Neuron. 2002;  35 21-23
  • 3 Jox R. Ärztliche Indikation beim „Wachkoma”.  Fortschr Neurol Psychiat. 2011;  79 576-581
  • 4 Duttge G. Therapiebegrenzende Entscheidungen in „Wachkoma”-Fällen aus rechtlicher Sicht.  Fortschr Neurol Psychiat. 2011;  79 582-587

Prof. Dr. Christiane Woopen

Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Forschungsstelle Ethik, Universitätsklinik Köln

Herderstr. 54

50931 Köln

Email: christiane.woopen@uni-koeln.de