Klin Monbl Augenheilkd 2011; 228(10): 857-858
DOI: 10.1055/s-0031-1281778
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Strabologie und Kinderophthalmologie: Diagnostik und operative Therapie

Strabology and Pedriatric Ophthalmology: Diagnosis and Surgical TherapyJ. Esser
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Publication Date:
13 October 2011 (online)

Strabologen und Kinderophthalmologen lasen das kürzlich publizierte wissenschaftliche Gutachten des für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und das Bundesgesundheitsministerium tätige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit großer Besorgnis, denn es bezog die aus mehr als 8 Jahrzehnten verfügbare Literatur zur Amblyopietherapie nicht mit ein, nur weil die Vielzahl der alten Studien nicht nach den heute geltenden GCP-Kriterien durchgeführt worden sind. Obwohl eine sensitive Phase der Visusentwicklung, die das Zeitfenster der Amblyopietherapie limitiert, eindeutig belegt ist, zog das IQWiG andere Schlüsse: „Vermutlich kann eine Amblyopie-Behandlung sogar im Jugendalter noch erfolgreich sein. Dies legt ein Vergleich zwischen zwei Studien nahe, an denen Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 7 Jahren beziehungsweise zwischen 13 und 17 Jahren teilnahmen: Es stellte sich heraus, dass Jugendliche, die das erste Mal wegen ihrer Amblyopie behandelt wurden, von der Behandlung nicht erkennbar weniger profitierten als deutlich jüngere Kinder.“ [1]. Dem IQWiG diente diese Argumentation dazu, ein augenärztliches Sehscreening im Vorschulalter abzulehnen. Mit ihrer umfassenden Literaturübersicht analysiert Gusek-Schneider [2], was es mit diesen Thesen und vor allem mir der eigenwilligen Interpretation der genannten Studien auf sich hat, wobei es ihr gelingt, die oben geschilderten, abstrusen Vorstellungen zurechtzurücken und den in der Amblyopiebehandlung eindeutig bestehenden Wettlauf gegen die Zeit herauszuarbeiten. Ihr Fazit: „Screening und frühe und langfristige Therapie ist zur Reduktion der Prävalenz hoher Amblyopien erforderlich.“

Weil der ETDRS-Visus in vielen internationalen Studien den DIN-Standard Landoltring abgelöst hat, haben Becker und Mitarb. [3] Landoltring- und ETDRS-Buchstaben-Sehschärfe bei Augengesunden und Patienten mit unterschiedlichen Augenerkrankungen verglichen. Sie kamen zu dem Schluss, dass sich – zumindest im oberen Visusbereich – kein klinisch relevanter Unterschied zwischen Landoltring-Visus und der mit ETDRS-Tafeln bestimmten Sehschärfe findet. Dies gilt sowohl für gesunde Augen sowie für häufige Augenerkrankungen (wie Katarakt, Makulopathie, Amblyopie). Im Visusbereich unter 0,32 liegen die ETDRS-Werte bei Erwachsenen jedoch um 0,5 bis 1,0 Stufe über dem Landoltring-Visus.

Mit der Frage nach den Einsatzmöglichkeiten der optischen Kohärenztomografie (OCT) bei der Diagnostik von Erkrankungen der Makula und des Nervus opticus bei Kindern widmen sich Tegetmeyer und Mitarb. [4] einer spezifisch kinderophthalmologischen Diagnostikfrage. Sie können zeigen, dass die OCT auch bei Kindern mit eingeschränkter Kooperation gut möglich ist. Hilfreich war die OCT bei unklaren Sehstörungen, makulären Erkrankungen und bei Erkrankungen des Sehnervs. Sie eignete sich hervorragend zur quantitativen Verlaufskontrolle bei Papillenödem, Stauungspapillen oder auch bei tumorbedingten Optikusatrophien.

Schmidt und Mitarb. [5] stellen sich der – bisher nicht in dieser Deutlichkeit beantworteten – Frage, inwieweit eine M.-obliquus-inferior-Rücklagerung bei Kindern mit einseitigem Strabismus sursoadductorius hinsichtlich der Kopfhaltung und der Vertikaldeviation erfolgreich ist. Sie konnten zeigen, dass die einseitige Obliquus-inferior-Rücklagerung mit ausschließlicher Fixierung des vorderen Sehnenteils an der Sklera eine effektive Behandlungsmethode des einseitigen Strabismus sursoadductorius bei Kindern ist und dass Überkorrekturen und postoperative Hebungsdefizite selten waren.

Zwei Arbeiten des Heftes beschäftigen sich mit der Korrektur großer vertikaler Schielstellungen (und deren Folgen) bei der endokrinen Orbitopathie. Durch den entzündlich bedingten fibrotischen Muskelumbau kommt es zu Verkürzung und Dehnbarkeitsverlust. Muskelrücklagerungen sind deshalb die Therapie der Wahl. Augenmuskeln können aber nicht beliebig weit zurückgelagert werden: Überschreitet die Rücklagerungsstrecke die Abrollstrecke des Muskels am Bulbus, so kann der Muskel den Bulbus nicht mehr drehen. Muskelresektionen sind deshalb sehr problematisch, vor allem bei stärker eingeschränkter Augenbeweglichkeit. Aus diesem Grunde wurde eine Technik zur Sehnenverlängerung mithilfe eines Interponats entwickelt, die großstreckige Bulbusumlagerungen erlaubt. Angewandt wurde diese Technik bisher für große Horizontalschielwinkel. Esser und Mitarb. [6] setzten das Interponat-Verfahren auch bei großen Vertikalschielwinkeln ebenso wie bei Unterkorrekturen nach einfacher Rectus-inferior-Rücklagerung (durch ein sekundäres Interponat) ein und konnten zudem Dosierungsempfehlungen geben. Von Vorteil ist, dass die funktionelle Besserung durch die Operation nur eines einzigen Augenmuskels erzielt wird, sodass die übrigen geraden Augenmuskeln für eventuell weitere Operationen „aufgespart“ werden (zur Vermeidung von Vorderabschnitts-Ischämien).

Gerade bei großen Inferior-Rücklagerungen kann postoperativ die Unterlidretraktion störend zu Tage treten (scleral show), da eine bandförmige Verbindung zwischen Rectus inferior und Unterlidretraktoren besteht. Bei der Unterlidanhebung, bei der – im Gegensatz zur Oberlidabsenkung – entgegen der Schwerkraft gearbeitet werden muss, sollte ebenfalls ein Interponat zum Verlängern der Unterlidretraktoren eingesetzt werden. Eckstein und Esser [7] konnten Dosierungsempfehlungen für die Breite des zu implantierenden Interponats geben und zudem zeigen, dass sich der Effekt der Unterlidverlängerung durch eine temporale Tarsorrhaphie signifikant steigern lässt.

Literatur

Prof. Dr. Joachim Esser

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