Psychiatr Prax 2011; 38(05): 260
DOI: 10.1055/s-0031-1283090
Szene
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gugging – Dokument einer historisch einmaligen Phase

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
01. Juli 2011 (online)

 

Gugging war in Niederösterreich nicht nur das bekannte Schlagwort in der Bevölkerung für die psychiatrische "Anstalt", sondern wie vielerorts, das Symbol des Hospitalismus. Gugging war seit den 80er-Jahren auch immer wieder Ort bemerkenswerter kultureller Blüten, deren wohl letzte nun dieser Film ist. Internationale Bekanntheit erlangte das "Haus der Künstler" mit Meisterwerken der Art Brut unter der Patronage von Leo Navratil, das bis heute existiert und lange als Abteilung des Krankenhauses fungierte. Die von Gugging aus in Niederösterreich mitbetriebene Psychiatriereform führte im Zuge der Regionalisierung bereits 1998 zur Gründung einer regionalisierten Abteilung am Allgemeinkrankenhaus in Hollabrunn (im niederösterreichischen Weinviertel), 2002 folgten dann zwei weitere Abteilungen an den Krankenhäusern in Neunkirchen und in Waidhofen an der Thaya. Auf diese Weise schrumpfte das Gugginger Einzugsgebiet und 2007 war es dann so weit, Gugging wurde nach 122 Jahren geschlossen, die Betten wurden in zwei neu gegründete Abteilungen an den Allgemeinkrankenhäusern in Tulln nördlich und in Baden südlich Wiens umverteilt. Die Revolution frisst ihre Eltern – nicht ganz, denn die leitenden Kräfte der Reform sind von Gugging in die neuen Abteilungen umgezogen. Der im Auftrag der niederösterreichischen Landeskliniken-Holding produzierte Dokumentarfilm schließt diese Geschichte ab.

Der Film, bei dem der Psychologe Peter Denk für Idee, Regie und Drehbuch verantwortlich zeichnet, ist professionell gemacht, wie man das heute von einem Dokumentarfilm erwartet, ohne Abstriche, gut geschnitten, ansprechendes Cover, schöne Bilder. Im Mittelpunkt des Films stehen Interviewsequenzen mit ehemaligen langjährigen Patienten, immer wieder kontrastiert mit Bildern von nunmehr leeren Bettgestellen und Ausblicken in die Parkanlage. Die ehemaligen Patienten, man erwartet es nicht anders, sind liebenswerte Originale, die Schilderungen sind von Wertschätzung und einer Art Heimatverbundenheit durchzogen. Das Anliegen des Films, ihnen eine Stimme zu geben, nachdem sie große Teile ihres Lebens Opfer von Hospitalismus waren, wird gut und würdig umgesetzt. Noch anrührender für den Rezensenten waren freilich die alten Filmaufnahmen aus den bewegten Tagen der Reformzeit in Gugging, über Anstaltsfeste und die Eröffnung des Cafés. Da atmet der Film eine liebenswerte Nostalgie, die denen, die diese Zeit miterlebt haben, das Herz ein wenig höher schlagen lassen wird. Schließlich war damals überall ein bisschen Gugging – diese seltsame, historisch einmalige und nicht allzu lange Phase der beginnenden Psychiatriereform, in der in vielen Teilen der Welt engagierte Intellektuelle, alte und neue Psycho-Profis eine ungewohnte Nähe und Brüderlichkeit ausgerechnet zu chronisch "Verrückten" fanden, die zumeist einer ganz anderen Gesellschaftsschicht entstammten. Dazu gehörte z.B. auch die (auch von dem Rezensenten noch gut erinnerte) Bereitschaft, sich vorbehaltlos um der Gemeinschaft willen in chronisch verrauchte Räume zu setzen und das oftmals etwas heruntergekommen wirkende Ambiente vehement gegen alle Kritik zu verteidigen, mit dem erhebenden Gefühl, eine Art Speerspitze der gesellschaftlichen Veränderung zu sein. Und es gab in diesen Aktionen sehr viel, teilweise auch überbordende, Phantasie und Bereitschaft Neues auszuprobieren; Kreativität, für die es heute kaum mehr eine Nische gibt. Diesen Geist atmet der Film und er ist damit nicht nur für Gugging ein Dokument einer Zeit, die definitiv abgeschlossen ist, kaum mehr vorstellbar in der heutigen Welt von OPS-Prozeduren, Qualitätsmanagement und regelmäßigen Prüfungen der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit durch die Krankenkassen. Vielleicht passend dazu hat auch die ehemalige Anstalt Gugging wieder ihren Platz in der Gegenwart gefunden: An den Standort ist das neu gegründete Institute for Science and Technology Austria eingezogen.

Tilman Steinert, Weissenau
E-Mail: tilman.steinert@zfp-zentrum.de