Psychiatr Prax 2011; 38(05): 262-263
DOI: 10.1055/s-0031-1283095
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

"einige ganz allein aufs Geratewohl durch alle anderen hindurchfliegen" ( Platon: Theätet)

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Publikationsdatum:
01. Juli 2011 (online)

 

Wir neigen dazu, es uns einfach zu machen. Eine große Vereinfachung war einst die Aussage des Graffitis am Hölderlinturm "Hölderlin isch ed färrughd gwäh!". Darum ging es in den 80er-Jahren im Streit zwischen dem Germanisten Pierre Bertaux und dem Psychiater Uwe Henrik Peters. Flüchtete sich der Dichter in eine Immigration oder war er psychisch krank? Und die Folge aus diesen Überlegungen: welchen Wert haben die Gedichte aus der 36 Jahre währenden zweiten Hälfte des Lebens von Friedrich Hölderlin, die er im Turm des Schreinermeisters Zimmer verbrachte? Für den Germanisten waren die Werke wertlos – die alte Spannung war abhanden gekommen, "äußerst mattes Zeug" (Eduard Mörike) – und für den Psychiater ein Indiz für die Symptomatik der Erkrankung.

Am 11.9.2008 wurden in Bad Homburg vor der Höhe die Gespräche zwischen Vertretern der Fachdisziplinen der Medizin sowie der Philosophie und Literaturwissenschaften wieder aufgenommen.

Daraus ist der von den Psychiatern und Hölderlinexperten und – "Bewunderern" Uwe Gonther und Jann E. Schlimme wesentlich mit gestaltete und herausgegebene Band Hölderlin und die Psychiatrie entstanden.

Systemtheoretisch betrachtet können sich die Psychiater gar nicht mit den Germanisten verstehen. Der Literaturwissenschaftler beurteilt den Künstler nach seinem Werk und interessiert sich für das Leben des Künstlers, um das Werk zu interpretieren. Der Psychiater bewegt sich zwischen den Polen krank und gesund und betrachtet die Lebensäußerungen in diesem Kontext. Wie gesagt, wir neigen dazu zu vereinfachen.

Die Dichtung Hölderlins, mehr noch, die Beschäftigung mit seinem Leben fliegt durch diese beiden Denksysteme hindurch. Die Turmgedichte berühren und die Germanisten, Psychiater und Philosophen dieses Bandes lassen sich berühren.

Der in der Schriftenreihe der Hölderlin-Gesellschaft erschienene Band ist geprägt von einer hohen Sensibilität gegenüber dem Leben und Werk des Dichters, und versucht damit gerade nicht mit grobem Werkzeug zu vereinfachen.

Die Psychiater wissen, dass selbst ein genau beschriebenes und empathisches Krankheitskonzept nicht in der Lage ist, den Menschen ganz abzubilden.

Die Autoren dieses Sammelbands beleuchten Hölderlins zweite Lebenshälfte: die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen dazu, dessen Leben in Homburg und seine psychiatrische Behandlung im Autenriethschen Klinikum in Tübingen. Die Auseinandersetzung mit Hölderlins Symptomatik wird in diesem Band nicht ausgespart, die Autoren sind sich aber bewusst, dass die psychiatrische Diagnose immer nur ein Hilfsmittel zu einem besseren Verständnis eines erkrankten Menschen sein kann.

Es geht vielmehr darum, den persönlichen Lebensentwurf des betroffenen Menschen zu erkennen.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit Hölderlins "Wahnsinn" als Teil der Rezeptionsgeschichte und geht auf die Deutungsrivalität zwischen Germanisten und Psychiatern und die Missverständnisse in dieser Debatte ein.

Der abschließende Teil, der sich mit Hölderlin für unsere Zeit beschäftigt birgt ein Kleinod. Der Beitrag des Bremer Literaturwissenschaftlers Wolfgang Emmerich "Hölderlins späteste Gedichte und die Sorge um sich" wagt die These, dass die Turmgedichte für Hölderlin die Funktion einer poetischen Diät hatten. Die "poetisch-idealischen Höhenflüge" der Jahre zuvor haben die Zerstörung der Psyche des Dichters verstärkt.

Hölderlins Leben im Turm und seine Gedichte dort sind Heilmittel gegen die extreme Unruhe und nicht aushaltbare Spannungszustände, eine Überlebenstechnik durch "Reduktion von Komplexität" (Niklas Luhmann).

Hölderlins Leben geht uns alle an: Der Sammelband – mit dem so hervorragend dargestellten Eingeständnis der Unmöglichkeit den Menschen ganz zu verstehen, die uns zwar wissenschaftlich nicht viel weiter bringt, aber uns in einem menschlichen Sinn ungemein befördert ("die aber sich retten wollen, müssen in beständiger Sorge um sich selbst leben" MUSONIUS) – ist das bedeutungsvollste Buch, was zu dem Thema Hölderlin und die Psychiatrie seit der besagten Auseinandersetzung in den 80er-Jahren herausgegeben wurde.

Das "Narrenschiff" hat sich damit unter der Flagge Genie und Wahnsinn einen höchst respektablen und differenzierten Passagier an Bord geholt, der lehrreich und mit genussvoll lesenswerten Texten einen wertvollen Beitrag liefert – ohne sich in der Pathografiefalle zu verfangen – über Leben, Leiden, Werk und Rezeption eines Poeten, der selbst den Wahnsinn thematisierte und im Spätwerk Wortbilder fand, für das gerade in schizophrenen Erkrankungen sich ereignende Fremdwerden im Eigenen.

Rüdiger Klees, Matthias Bender; Hadamar
E-Mail: matthias.bender@vitos-hadamar.de

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Gonther U, Schlimme JE.
Hölderlin und die Psychiatrie. Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Band 25. Bonn: Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag; 2010, 302 Seiten, 29,95 Euro. ISBN 978-3-88414-513-5