Psychiatr Prax 2011; 38(05): 264
DOI: 10.1055/s-0031-1283097
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Irre irren nicht – Anstaltspsychiatrie in der DDR

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Publication Date:
01 July 2011 (online)

 

Helmut F. Späte und Klaus-Rüdiger Otto gehören zur kleinen Gruppe von engagierten Sozialpsychiatern der ehemaligen DDR, die nach der "Wende" turbulente Zeiten erlebten und oft neue berufliche Wege einschlugen (bzw. einschlagen mussten). Helmut Späte hatte bis 1993 den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg inne, Klaus-Rüdiger Otto hatte bereits 1981 seinen Chefarztposten am Bezirkskrankenhaus Psychiatrie und Neurologie Bernburg zugunsten einer Niederlassung aufgegeben. Im Buch "Irre irren nicht" erinnern sich die Autoren ihrer Zeit in der psychiatrischen Anstalt Brandenburg-Görden in den 60er- und 70er-Jahre.

Dabei stellen sie institutionelle Auswüchse der Anstaltspsychiatrie plastisch, lebendig und – überraschenderweise – nicht ohne Humor dar. Die Autoren beziehen sich auf klassische Arbeiten zur Anstaltspsychiatrie. Von Goffman über Fischer bis Kisker werden Texte referiert und zitiert, die heute bedauerlicherweise oft in Vergessenheit geraten sind. Sie stellen dar, wie sie mit einem Konzept der therapeutischen Gemeinschaft ansetzten, die anstaltsbedingte Hospitalisierung zu überwinden.

Warum interessiert dieses Buch heute? Zunächst werden die Themen Anstaltspsychiatrie, Asyle, Hospitalisierung und ihre Auswüchsen interessant, plastisch und gut lesbar dargestellt. In der provinziellen Abgeschiedenheit von Brandenburg-Görden spiegelt sich ein zentrales Kapitel der Psychiatriegeschichte wider. Dabei haben die Autoren den Anspruch, den Blick der Betroffenen zu integrieren: "Irre irren nicht". Weiterhin wird Sozialpsychiatrie in der DDR dargestellt. Im Rahmen der dortigen politischen und ökonomischen Möglichkeiten gab es auch dort Modelle, Konzepte und Thesen (z.B. die Rodewischer Thesen), die im Westen wenig bekannt waren (und sind), die aber aufzeigen, dass Grundprobleme und ihre Lösungen letztlich ähnlich waren. Schließlich zeigt das Buch mutmachend, wie mit fachlicher Kompetenz und menschlichem Engagement die Auseinandersetzung mit einem starren System möglich ist.

Insgesamt ist der Text gut lesbar, eine menschliche und humorvolle Grundhaltung macht ihn sympathisch. Deswegen habe ich auch die eine oder andere Sprunghaftigkeit wie auch das teilweise Durchbrechen von verschiedenen Textkategorien (Dokumentation, Pseudodokumentation, Fiktion) gerne hingenommen. Insgesamt haben Späte und Otto ein sehr persönliches, ungewöhnliches und lesenswertes Buch vorgelegt, das zum Problem der Anstaltspsychiatrie und zu Aspekten der Sozialpsychiatrie in der ehemaligen DDR Interessantes darstellt.

Peter Brieger, Kempten
E-Mail:peter.brieger@bkh-kempten.de

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Späte HF, Otto K-R.
Irre irren nicht.
Leipzig-Weißenfels: Ill & Riemer; 2010: 204 S., 19,95 €. ISBN: 978-3-936308-08-2