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DOI: 10.1055/s-0031-1283994
© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York
Leserbrief zu A. Ertle: Beredtes Schweigen. Anmerkungen zur andauernden Wirkmächtigkeit der apostolischen Funktion in Balint-Gruppen. Teil II (Fallvignette)
aus Balint-Journal 2011; 4; 100–108Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
29. März 2012 (online)

Herr Ertle stellt in seinem Artikel hohe ethische Forderungen für seine ärztlichen Kollegen auf -- aber wird er seinen Maßstäben selber gerecht? Zitate wie keine Ursachenforschung, Medikamenten-Verschreibende Heuchler, usw. legen dem Leser einen erschreckenden Zustand der Hausärztlichen Medizin nahe; die Implementierung der Balint-Arbeit habe nur oberflächlich etwas erreicht -- die Realität der Umsetzung in den Curricula zur Psychosomatischen Grundversorgung müsste so manchen mit Schrecken erfüllen. Unter der bezeichnenden Überschrift Wieviel an narzistischer Besetzung vertragen Arzt und Balintarbeit? wird die klassische Arbeitsweise in der Balint-Gruppe hochgehalten und die Idealisierung des Arztes als Perversion kritisiert; L. Velluet versteige sich zu der Behauptung, dass fast alle praktischen Ärzte von einer Balintarbeit profitieren können. Warum eigentlich nicht und woher kommt wohl diese wütende Kritik? Sie verstärkt den Eindruck, der Artikel diene der Zurückweisung einer kränkenden Erfahrung wie sie in der geschilderten Fallvignette deutlich wird.
Diese Falldarstellung erfordert eine genauere Betrachtung der realen und der strukturellen Situation in der Gruppe.
Die reale Situation war von einer berufspolitischen Demonstration geprägt, in der es um eine Auseinandersetzung um reale oder vorgestellte existenzielle Nöte ging. Ein Balint-Leiter wird sich fragen, ob er unter diesen Umständen zur Balintarbeit in klassischer Arbeitsweise wird kommen können, wenn die Kollegen in einer erhöhten Affekt- und Regressionsbereitschaft gänzlich anders eingestellt sind; vielleicht wird er ihnen helfen, sich umzustellen und in der anderen Situation anzukommen, z. B. indem er ihre Affekte anspricht und dann fragt, ob in dieser Bewegtheit sie überhaupt bereit und in der Lage sind, Balintarbeit zu machen, die ja eine völlig andere Haltung erfordert.
Die verpflichtende Teilnahme an einer Balint-Gruppe stellt den Balint-Leiter vor eine besondere Aufgabe, handelt es sich doch um Kollegen, die zum Teil keine Vorstellung noch eine eigene Motivation haben - sie sollte ja bestenfalls durch eine gute Balint-Erfahrung entstehen. Kollegen, die sich auf solch unbekanntes Terrain begeben, sind vermutlich unsicher und haben vielleicht auch eigene Probleme oder Voreingenommenheiten. Insofern beginnt die Aufgabe des Balint-Leiters schon vor jeder inhaltlichen Arbeit am Fall. Prof. Stucke, unser langjähriger Vorstand, wirkte wie der Fels in der Brandung, wenn er darauf bestand, dass wir unseren Kollegen dieselben Möglichkeiten der Selbsterfahrung eröffnen sollten wie unseren geliebten Patienten. Dies gilt umso mehr, wenn wir sie als Schüler in eine unsichere Situation bringen, die Halt und Orientierung fordert; ohne sie kann eine Gruppenarbeit nicht gelingen, besonders nicht, wenn die Struktur in der Gruppe fehlt. Ein gruppendynamisch aufmerksamer Leiter setzt nicht voraus, was gar nicht da sein kann, sondern klärt die Voraussetzungen für eine gelingende Gruppenarbeit, etwa indem er fragt, ob die versammelten Kollegen bereit seien, sich auf ein Experiment einzulassen. Die äußerste Konsequenz, nämlich dass keine Bereitschaft gegeben wäre, muss natürlich riskiert werden; das wäre kein Misslingen wie im geschilderten Fall.
Die strukturgebende Funktion des Leiters ist auch bei der Auswahl des Falles gefragt; im gegebenen Beispiel handelt es sich doch gar nicht um das Anliegen einer Beziehungsklärung, sondern um einen Interessenkonflikt zwischen Arbeitgeber und Mitarbeiterin - oder um einen inneren Konflikt des Kollegen, der die Verantwortung für seine frühere unternehmerische Entscheidung nicht tragen will. Das Einbringen dieses wie anderer unmöglicher Fälle findet sich oft bei verunsicherten Balint-Anfängern und weist auf regressive Tendenzen in der Gruppe hin; umso wichtiger ist zugewandte und verständnisvolle Balint-An-Leitung, um Scheitern zu vermeiden. In der Falldarstellung wird allerdings eine regressive Gruppe überdeutlich; neben primärprozesshaften Tendenzen finden sich projektive Entwertungen des Gegenübers, die man als Ausagieren negativer Selbstbilder deuten wird. Der Leiter wird quasi bestraft; weil er nicht entschieden und klar seine Rolle angenommen hat, regiert die selbstidealisierende Größenidee in der Gruppe und Destruktives tritt überdeutlich hervor, ohne dass es im Sinne einer begrenzten Selbsterfahrung erreichbar wäre.
Herr Ertle sieht seine Aufgabe als Balint-Leiter nicht, wenn er die Verantwortung für eine misslungene Balint-Gruppe den überforderten Kollegen zuschiebt. Hier wäre zu fragen, ob es nicht bei ihm selbst zum konflikthaften Zusammenstoß zwischen apostolischer Funktion und der Realität gekommen ist. Ich finde das auch für ihn als Verfasser dieses Artikels schade, der so manchen klugen Gedanken und viel Arbeit enthält; bedanken möchte ich mich für den Hinweis auf das wunderbare Buch von H. J. Ortheil, die Erfindung des Lebens; der findet sich in seinem Artikel in der vorherigen Ausgabe.
Dr. med. Johann Eichfelder
Dr. med. J. Eichfelder
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Nervenarzt Psychoanalyse Lehranalytiker Supervisor
Schiestlstr. 8
97080 Würzburg
eMail: johann.eichfelder@dgn.de