Balint Journal 2012; 13(2): 33-40
DOI: 10.1055/s-0031-1284028
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Nur wer die Sehnsucht kennt“[1]

“Only One Who Knows Longing”
J. Kulenkampff
1   Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Philosophie, Erlangen
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Publication Date:
11 June 2012 (online)

Zusammenfassung

Anhand von Goethes Gedicht wird aufgezeigt, dass Sehnsucht ein aufgrund einer konkreten Verlusterfahrung im Objekt wohlbestimmter Seelenzustand der Trauer und des leidvollen Verlangens ist, in dem die Verlangenden zur Untätigkeit verurteilt sind. Auch wenn den Verlangenden ihr Zustand unendlich zu sein scheint, ist Sehnsucht grundsätzlich ein vergänglicher Zustand. Um 1800 entsteht das Konzept der romantischen Sehnsucht, dem zufolge das Menschsein als solches durch Sehnsucht (im Sinne einer anthropologischen Kategorie) gekennzeichnet sein soll. Wie am Beispiel Eduard Sprangers gezeigt wird, bestimmt das Konzept der romantischen Sehnsucht die wissenschaftliche Pädagogik sowie die Alltagspsychologie bis weit ins 20. Jahrhundert. Unter dem Aspekt diagnostisch-therapeutischer und gesellschaftsanalytischer Relevanz plädiert der Beitrag für eine Rückkehr zum ursprünglichen Konzept der Sehnsucht und für eine phänomenologische Abgrenzung gegen verwandte Erscheinungen.

Abstract

The title of the paper is taken from a famous poem by Goethe which in this paper serves to characterize the nature of longing. Caused by the experience of a loss, longing is a psychic state of suffering and sadness which mostly has a beloved person as its intentional object. Further features of longing are that the longing person feels doomed to passivity and that the state of longing seems of endless duration though longing in principle is a passing state. About 1800 emerged what might be called the concept of romantic longing. Now longing is conceived, in an anthropological manner, as something which characterizes the existence of human beings as such. This concept of romantic longing had a very widespread effect on the 20. Century pedagogical thinking (a book of the very influential Eduard Spranger serves here for evidence) and even on the folk psychology of our times. With respect to the question which concept of longing may prove to be helpful for diagnostic, therapeutic or other analytic purposes, the paper pleas for a return to the old concept of longing which should be further elaborated by comparing it with other related phenomena.

1 Der Text basiert auf einem Vortrag, der am 14.06.2011 auf der 40. Psychotherapiewoche in Langeoog gehalten wurde.


 
  • Literatur

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