Psychiatr Prax 2011; 38(06): 310-312
DOI: 10.1055/s-0031-1287699
Szene
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gemeindepsychiatrische Zwangsbehandlung (Community Treatment Order) – Erfahrungen aus Wales

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Publikationsdatum:
01. September 2011 (online)

 

Die Psychiatrie in England und Wales hat seit einer Gesetzesänderung im Jahre 2007 die Möglichkeit, Patienten in der Gemeinde zwangszubehandeln. Diese Änderung war einer der meist diskutierten Ergänzungen zum bestehenden Zwangseinweisungsgesetz (Mental Health Act), die nach Meinung der Regierung die Diskrepanz zwischen der bestehenden Gesetzgebung und der zunehmend gemeindepsychiatrischen Orientierung der Psychiatrie schließen sollte (Details in [1]). Die Idee war es, sich ständig wiederholende Zwangseinweisungen (revolving door patients) dadurch zu verhindern, dass man den Patienten Auflagen machen kann, die einen Rückfall verhindern. In der Realität sieht dies so aus, dass Patienten, die bei bekannter Grunderkrankung zur Behandlung zwangseingewiesen werden, schon immer unter Section 17 das Krankenhaus unter Auflagen verlassen konnten, unter Umständen auch für einige Wochen. Jetzt kann der behandelnde Psychiater den Patienten früher entlassen, dabei aber Auflagen definieren, die eine schnelle Wiedereinweisung verhindern helfen sollen.

Dies kann von einer Verpflichtung, Medikamente zu nehmen bis hin zum Akzeptieren von täglichen Besuchen durch gemeindepsychiatrische Teams gehen. Theoretisch könnte der behandelnde Psychiater sogar festlegen, dass der Patient bestimmte Orte nicht besuchen darf oder keine Drogen nehmen soll. Solcherlei Auflagen stoßen natürlich schnell an praktische Grenzen, denn wer will dies schon wirklich kontrollieren? Falls der Patient gegen diese Auflagen verstößt, oder er oder sie wieder krank wird, kann der Psychiater eine sogenannte "Recall"-Dokumentation ausfüllen, die den Patienten verpflichtet, ins Krankenhaus zurückzukommen. Innerhalb von 72 Stunden muss dann entschieden werden, ob der Patient das Krankenhaus wieder verlässt oder sein "Ausgang", denn das ist es juristisch, gestrichen wird, um eine weitere stationäre Behandlung zu ermöglichen. Während dieser Zeit ist eine Gabe eines Depotmedikaments im Krankenhaus möglich. Zum Schutz der Patienten muss jede sogenannte Community Treatment Order (CTO) (gemeindepsychiatrische Behandlungsanordnung) durch einen unabhängigen Experten mit unterzeichnet werden und wird dann außerdem nochmals unabhängig von einem anderen Psychiater bestätigt. Einmal bestätigt, gilt sie bis zu 6, bei wiederholter Bestätigung bis zu 12 Monaten. Weiterhin kann ein Patient nicht gegen seinen Willen in der eigenen Wohnung zwangsmediziert werden. Dies geschieht dann, wenn nötig, im Krankenhaus.

Bei Einführung der CTOs hat das Gesundheitsministerium vermutet, dass es einige hundert CTOs pro Jahr geben würde. Schon im zweiten Jahr wurden diese Schätzungen fast um das 10-Fache überschritten. Die Psychiatrie scheint also von den gemeindepsychiatrischen Behandlungsanordnungen regelrecht begeistert zu sein. Eine im Juli 2011 veröffentlichte Qualitätsuntersuchung in Wales [2] fand, dass 261 Patienten in 12 Monaten zwischen 2009 und 2010 eine CTO bekommen haben (im Schnitt 25 pro Monat in Wales). Dies bei einer Bevölkerungszahl von 3 Millionen und einer Zwangseinweisungsquote von 12,8%, gemessen an allen psychiatrischen Einweisungen. In absoluten Zahlen waren dies 1452 Zwangseinweisungen in dem gemessenen Zeitraum von 12 Monaten; was sowohl in absoluten als auch relativen Zahlen in Wales in den letzten 6 Jahren kaum eine Veränderung darstellt. Der Anteil an Patienten, die in diesem Zeitraum in Spezialeinrichtungen für Lernbehinderte eingewiesen wurden, hat allerdings stark zugenommen (von 26% im Jahr 2000 auf 40% im Jahr 2010). Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Patienten, die früher entlassen werden, um von Home Treatment Teams zu Hause weiterbehandelt zu werden, ebenfalls stark gestiegen. Gemeindepsychiatrische Behandlung schließt auch relativ schwer Kranke nicht aus.

Die walisische Untersuchung versuchte auch, den Gründen für den so häufigen Gebrauch der CTOs auf den Grund zu gehen. Bei 30% der Patienten wurde ein Absetzen der Medikamente oder ein Verweigern von gemeindepsychiatrischer Hilfe nicht als Grund für die CTO angegeben. 25% der Patienten wurden zu irgendeinem Zeitpunkt ins Krankenhaus zurück beordert. Außerdem gibt es nicht unwesentliche Unterschiede zwischen den 7 walisischen Regionen, was die Häufigkeit von CTOs angeht. Leider wurde bei den Patientenerfahrungen nicht nach Erfahrungen mit CTOs gefragt, da es in der Untersuchung primär um Erfahrungen im stationären Bereich ging.

Wir haben bei lokalen Qualitätsuntersuchungen und Audits in Nordwales zwei Hauptgründe herausgearbeitet, weswegen gemeindepsychiatrische Behandlungsanordnungen benutzt werden:

  1. Compliance: Eine Gruppe Patienten, bei denen CTOs bevorzugt angewandt werden, sind Patienten mit einer Vorgeschichte von wiederholtem Absetzen der Medikamente oder Verweigerung der Betreuung durch gemeindepsychiatrische Dienste. Dies sind Patienten, bei denen wiederholte Zwangseinweisungen und weitere akute Krankheitsepisoden mit großer Wahrscheinlichkeit durch Medikamenteneinnahme (häufig Depotmedikation) verhindert werden könnten. Oder es handelt sich um Patienten, die durch fehlende oder gescheiterte gemeindepsychiatrische Betreuung ein erhöhtes Wiedererkrankungsrisiko haben. Bei dieser Gruppe gibt es häufig viel Diskussionsbedarf, wann ein "Recall" in das Krankenhaus stattfinden soll.

  2. Risikomanagement: Eine weitere Gruppe sind Patienten, bei denen CTOs allein zum Risikomanagement eingesetzt werden. Dies sind Patienten, denen zum Beispiel zur Auflage gemacht wird, bestimmte soziale Aktivitäten zu vermeiden, wenn diese in der Vergangenheit oft zu großen Problemen geführt haben. Es kann auch um Fälle gehen, wo forensische Probleme durch Auflagen verhindert werden sollen.
    Es handelt sich also mehr um soziale Kontrolle zur Risikoeindämmung als um rein medizinische Maßnahmen zur Rezidivverhinderung. Bei dieser Patientengruppe wird häufig auch schon bei kleinen Verstößen gegen die Auflagen eine Wiedereinweisung angeordnet.

Erste Forschungsergebnisse zeigen, dass CTOs bei Patienten, die in gewisser Weise den Auflagen zustimmen oder diese zumindest nicht völlig ablehnen, erfolgreicher sind als bei jenen Patienten, die die Auflagen komplett ablehnen. Dies überrascht wenig. Es ist aber noch unklar, wie erfolgreich die Auflagen bei der letzteren Gruppe letztendlich sind. Bei den Psychiatern sowie den gemeindepsychiatrischen Teams in England und Wales erfreuen sich die CTOs auf jeden Fall großer Beliebtheit. Es ist allerdings schon immer Teil der britischen Psychiatrietradition gewesen, den Patienten, der krank ist, relativ aktiv zur Behandlung zu bewegen; besonders, wenn Krankheitsuneinsichtigkeit vorliegt. In Deutschland existiert vergleichsweise häufiger die Tendenz, Patienten, die nicht behandelt werden wollen, unbehandelt zu belassen. Auf jeden Fall machen CTOs nur dort Sinn, wo eine relativ engmaschige gemeindepsychiatrische Versorgung existiert, da ja ansonsten Kontrollmaßnahmen wenig nützen. Au ßerdem ist auch die oben angesprochene zweigeteilte Nutzung der CTOs ein Problem, da unterschiedliche Motive nicht unbedingt optimal durch dasselbe Intrument bedient werden können. Hier existiert eventuell noch juristischer Handlungsbedarf, um Feinjustierungen der CTOs zu ermöglichen.

Meine persönliche Auffassung ist, dass CTOs eine durchaus nützliche Verlängerung von stationärer Behandlung sein können, die eine schnellere Entlassung von Patienten zurück in ihr häusliches Umfeld ermöglichen. Inwieweit sie dazu beitragen Wiedereinweisungen zu verhindern, wird sich in den nächsten Jahren definitiv herausstellen. Es ist aber momentan noch verfrüht, hier endgültige Schlüsse ziehen zu wollen.

Peter Lepping, Wrexham
E-Mail: peter.lepping@wales.nhs.uk