PPH 2011; 17(05): 230
DOI: 10.1055/s-0031-1287901
PPH|Szene
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bruno’s Welt - Sollen wir uns zur Abwechslung mal um die Patienten kümmern?

Bruno Hemkendreis
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Publication Date:
22 September 2011 (online)

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(Foto: Werner Krüper)

Nachdem wir in mehrjährigen Gender-Arbeitsgruppen geklärt haben, welche Form der weiblichen und männlichen Ansprache in Sprache und Schrift die richtige ist, konnten wir uns mit korrekten Umgangsformen auf die großen Aufgaben des Qualitätsmanagements konzentrieren.

Uns fiel es über die Jahre nicht leicht, die Vorgaben und Denkmuster der lukrativen QM-Industrie zu verstehen, geschweige denn, sie umzusetzen. Aber wir haben weder Geld noch personelle Ressourcen gescheut, um endlich das Siegel der Zertifizierung an das Klinikportal schrauben zu können. Als schwierig in diesem Prozess erwiesen sich die Patienten mit ihren persönlichen Eigenarten, teilweise bizarren Krankheitsbildern und geradezu verrückten Bedürfnissen. Hier musste einiges geglättet werden – nicht bei den Vorgaben des Qualitätsmanagements, die sind klar und unmissverständlich. Es war jedoch nicht so schwer, Kompromisse bei der Patientenversorgung zu entwickeln, da wir durch die vielfältigen neuen Aufgaben sowieso nicht mehr wirklich die Zeit hatten, uns mit denen zu beschäftigen.

Heute haben wir Brief und Siegel dafür, dass wir Qualität liefern, und den Patienten, die sich über zu wenig individuelle Betreuung und Therapie beklagen, können wir schwarz auf weiß beweisen, dass sie irren.

In vielen Krankenhäusern wurden neue, EDV-gestützte Krankenakten eingeführt, verbunden mit einem hohen zeitlichen Schulungsaufwand für alle MitarbeiterInnen. Es blieb erneut nur wenig Zeit, sich mit den Patienten im persönlichen Kontakt zu beschäftigen. Dafür bietet die EDV jetzt sehr strukturierte Möglichkeiten, Pflege- und Behandlungsplanungen zu erstellen, ohne überhaupt mit den Patienten gesprochen zu haben. Die vom Gesetzgeber und den Kostenträgern geforderte Dokumentation ist jetzt wasserdicht, damit sind wir forensisch abgesichert.

Nun laufen die Vorbereitungen für das neue Entgeltsystem in der Psychiatrie auf Hochtouren. Im sogenannten OPS-Katalog werden die Leistungen der verschiedenen beteiligten Berufsgruppen in Einheiten geordnet. Es stellt sich aber heraus, dass die von Statistikern vorgegebenen Therapieeinheiten relativ wenig mit der Realität vor Ort in Einklang gebracht werden können. Unsere Erfahrungen mit dem Qualitätsmanagement erweisen sich an dieser Stelle als äußerst hilfreich. Wir werden unsere Patienten und deren Bedürfnisse an den OPS-Katalog anpassen, dann bekommen wir auch das hin.

Während wir Spezialisten in der Runde von Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern und gestandenen Psychiatriepflegern die ethischen Dimensionen dieser neuen Errungenschaften im Dienstzimmer ausgiebig diskutieren, eskaliert draußen auf der Station die Stimmung unter den Patienten.

Die neue, noch unerfahrene, aber hoch motivierte Krankenschwester, die draußen für Ruhe sorgen sollte, schaut durch die Tür und fragt angenervt: „Sollen wir uns zur Abwechslung mal um die Patienten kümmern?“

Da schauen wir alten Hasen uns wissend an und denken: „Die muss noch einiges lernen“.

LESERBRIEF

Hallo Herr Hemkendreis,

mit großer Feude und Interesse lese ich gerne die Rubrik „Brunos Welt“, zumal ich vermute, dass wir einen ähnlichen Jahrgang haben und vielleicht sogar eine ähnliche Entwicklung in der Psychiatrie erlebt haben. Bei der Glosse „Nichtschwimmwer“ in Ausgabe 4/11 ist mir jedoch aufgefallen: ob das wirklich so ist, wie Sie es darstellen? Vielleicht ist es ja auch ihre Absicht, in der Rubrik einseitig zu polarisieren, damit die Leute etwas aufgerüttelt werden und nochmal über bestimmte Sachverhalte nachdenken. Was mich so anspringt bei dem, was Sie schrieben mit der Schwester, die den suizidalen Patienten betreut, ist die Tatsache, das sich daraus so etwas ergeben könnte, wie: die Pflege jammert mal wieder in die Richtung „Keiner sieht uns, keiner nimmt uns ernst“. Und stimmt das wirklich so, dass der Schwester keine Entscheidungskompetenz zugetraut wird? Gibt es nicht in der praktischen Arbeit mindestens genausoviele Beispiele, wo den Schwestern und Pflegern Entscheidungskompetenz zugetraut wird und aus diesen Entscheidungen dann auch Entscheidungen auf der ärztlichen Ebene getroffen werden? Natürlich haben Sie recht, wenn damit ausgedrückt wird, dass die Krankenhausbehandlung immer ärztlich geleitet ist und wir formal mit unseren Entscheidungskompetenzen nicht rechtlich so dastehen wie oben beschrieben. Mein Eindruck ist jedoch: in der Praxis wird berufsgruppenübergreifend – gerade bei den suizidalen Patienten – viel miteinander geredet und abgestimmt im Sinne einer guten Patientenversorgung und hier insbesondere im Sinne der Sicherheit des Patienten. Mich springt an, wie gesagt, dieses Jammern, zumal ich mir nicht sicher bin, ob wir denn wirklich alle in der Pflege mehr Verantwortung übernehmen wollten, wenn wir denn nur könnten. Hilfreich scheinen mir im Umgang mit suizidalen Patienten Instrumente zu sein wie z. B. NGASR, die auch der Versachlichung dienen und gleichzeitig die subjektive Bewertung unabhängig von der Berufsgruppe zulassen, weil sie in diesem Prozess wesentlich ist. Ich glaube, wir sollten weniger klagen und jammern, sondern Sorge dafür tragen, wie wir Kulturen entwickeln können, die geeignet sind, zum Wohle des Patienten etwas zu erreichen. Ich hoffe, ich konnte mein Anliegen deutlich machen.

Freundliche Grüße

Uwe Braamt

Pflegedirektor, LWL-Klinik Herten