Dtsch Med Wochenschr 2011; 136(51/52): 2669-2675
DOI: 10.1055/s-0031-1292830
Weihnachtsheft | Commentary
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Mumie als Medizin – Moral und Heilkunde im frühneuzeitlichen Japan

Mummy as medicine – morals and medicine in early modern Japan
M. Kinski
1   Goethe-Universität, Frankfurt am Main
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Publication Date:
14 December 2011 (online)

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Medizingeschichtlicher Hintergrund

Das Japanische der Edo-Zeit (1600–1868, Edo ist der ältere Name des heutigen Tôkyô) besaß noch kein Wort, um die abstrakte Vorstellung von Gesundheit auszudrücken. Das heute gebräuchliche Wort, kenkô, entstand erst in der Mitte des 19.  Jh. als eine von mehreren Alternativen im Kontext der Übersetzung medizinischer Werke aus Europa. Nichtsdestotrotz lässt gerade diese Epoche eine wachsende Beschäftigung mit der Gesundheit erkennen. Das ist vielleicht der allgemeinen medizinischen Situation geschuldet. Die Zahl der Bewohner in städtischen Gebieten stieg dramatisch an, doch die sanitären Bedingungen waren schlecht, und ansteckende Krankheiten konnten sich leicht ausbreiten. Gleichzeitig erleichterten die zunehmende Dichte der sozialen Beziehungen und die Intensivierung des Handels landesweite Epidemien. Dennoch ist es fraglich, ob Japan während des 18. und 19.  Jh. mehr Krankheitsfälle verzeichnete als europäische Länder. Es gab lokale Besonderheiten – den fremden Besuchern fiel die große Zahl der Augenleiden auf. Im Großen und Ganzen blieben jedoch der Zustand der Gesundheitspflege wie auch der Beitrag des professionellen medizinischen Wissens nicht hinter Europa zurück, zumindest nicht bis zum Aufstieg der klinischen Medizin in ihrer Verschränkung mit den Fortschritten auf den Gebieten der Hygiene und der Ernährung. Mit wachsender Prosperität wurde die Verbesserung der medizinischen Situation zu einem aktiven Unterfangen. Man mag dies als Antwort auf die grassierenden Krankheiten deuten. Es ist jedoch auch das Resultat eines Wandels der Lebensbedingungen. Geld, die Zunahme an Freizeit und eine Diversifizierung der Lebenseinstellungen, die damit einhergingen, nährten den Bedarf an wirksameren und extravaganteren Arzneien (Abb.  [ 1 ]). Gleichzeitig ist diese Entwicklung ein Spiegelbild des „state of the art“ der Heilkunst. Das günstige Pro-Kopf-Verhältnis von Ärzten zu den Bewohnern der Städte, aber auch der ländlichen Gebiete, kann als Hinweis auf die vergleichsweise gute ärztliche Versorgung gedeutet werden. Um 1820 kam in Edo mit einer Bevölkerung von einer Million Menschen ein Arzt auf etwa 400 bis 500 Einwohner. Die Zahlen sagen jedoch nichts über die Wirksamkeit der medizinischen Behandlung aus. Zeitzeugen bringen vielmehr eine allgemein verspürte Unzufriedenheit zum Ausdruck.

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Abb.1 Kampf der guten Arzneien gegen die bösen Krankheiten (1.  Hälfte des 19.  Jh.; Quelle: International Research Center for Japanese Studies Library, Kyoto).

Der Gelehrte Terakado Seiken (1796–1868) klagt: Die zeitgenössischen Ärzte sorgen sich in erster Linie um persönliche Sauberkeit, modisches Aussehen und die Größe des Eingangstores ihrer Häuser. In ihren Sänften sitzend eilen sie von Konsultation zu Konsultation, blicken flüchtig auf die Gesichtsfarbe der Patienten, lecken zu diagnostischen Zwecken an deren Hämorrhoiden und inspizieren ihren Urin, dabei immer schmeichelnd aus Furcht vor den Gefühlen der Dame des Hauses. Nicht einen Moment denken sie an die Bedeutung von Yin und Yang sowie die der Fünf Elemente – auf denen doch die chinesisch geprägte Heilkunde basiert –, und sie wissen nichts über so grundlegende Klassiker der chinesischen Medizin wie die Goldene Büchertruhe (Jingui [yaolue]) und die Erörterung der Kälteschäden (Shanghan lun). Sie meinen, es genüge, wenn ihre Tränke nur süß und ihre Pillen angenehm schmecken [15].

Und Ôtsuki Gentaku (1757–1827; Abb.  [ 2 ]), führender Vertreter der Holland-Gelehrsamkeit zu Beginn des 19.  Jh., beschreibt sowohl den gewöhnlichen Doktor in der Nachbarschaft wie auch die Experten in Diensten der Regionalfürsten als Faulenzer, die in der Regel nichts für ihren Lebensunterhalt leisten. „Da dies ein Zeitalter ist, in dem es nichts ausmacht, wenn Ärzte sich nicht anstrengen, gilt die Mitmenschlichkeit nur zum Schein als Anfang des Weges der Heilkunde; in Wirklichkeit sind [die Ärzte] in ihrem Herzen nur Kaufleute [9].“

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Abb. 2 Ôtsuki Gentaku (Quelle: International Research Center for Japanese Studies Library, Kyoto).

Die tatsächlichen Bedingungen dürften sich stark von Kaibara Ekikens Überzeugung unterschieden haben (1630–1714; konfuzianischer Gelehrter und Verfasser von Werken zu Diätetik und den materia medica): Ärzte sollten eine von Mitmenschlichkeit und Liebe geprägte Haltung zur Grundlage des Handelns und die Hilfe an den Mitmenschen zu ihrer einzigen Ambition machen – nicht den Gedanken an den finanziellen Profit [4].

So verwundert es nicht, dass in einer stabileren und wohlhabenderen Gesellschaft Menschen zunehmend ihr Schicksal in die eigenen Hände nahmen und Ausschau nach den ihnen zugänglichen Mitteln hielten, um ihre Lebens- und vor allem Gesundheitsbedingungen zu verbessern.

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Abb. 3 Ein Blick in den Körper (1. des Hälfte 19. Jh.): Was passiert mit der Nahrung? (Quelle: International Research Center for Japanese Studies Library, Kyoto)

Parallel zu der wachsenden Sorge um Gesundheit können zwei Tendenzen beobachtet werden: die Entwicklung einer diätetischen Literatur und das Expandieren des Gebiets der Pharmakopeia. Seit dem 18.  Jh. wurden mehr als 100 Schriften gedruckt, in denen es um die „Nährung des Lebens“ (yôjô) ging. Das Genre kappte seine Bande mit der Suche nach Unsterblichkeit, die in der daoistischen Tradition stand, und nahm die Form praktischer medizinischer Ratgeber an [13]. Zunächst mögen nur die Wohlhabenden in der Lage gewesen sein, sich solche Bücher zu leisten. Nichtsdestotrotz gaben die Verfasser ihren Werken den Charakter einer pädagogisch-praktischen Literatur für den Alltagsgebrauch und beschäftigten sich darin mit Themen wie Hygiene, Ernährung, grundlegenden physiologischen Kenntnissen, Geburt, Pflege und Erziehung der Kinder, Arzneimittelgebrauch sowie einfachen Methoden zur Behandlung diverser Krankheiten.

Zugleich wuchs das gelehrte Interesse an den materia medica auffällig und die Kommerzialisierung der Pharmazeutika entwickelte sich rasch mit einer großen Spannweite an Apotheken und Wanderhändlern als Markenzeichen. Die heftige Konkurrenz unter diesen wird durch ihre Ladenschilder und Werbeplakate illustriert. Selbst die Hilfe professioneller Schauspieler wurde herangezogen, um während der Theateraufführungen für ihre Produkte zu werben. Heilsubstanzen mit einem Hintergrund in der chinesischen Tradition dominierten den Markt und riefen periodisch populäre Arzneimischungen auf den Plan, die als Panacea gehandelt wurden. Aber auch europäische Artikel betraten die Bühne und machten sich dort mehr als bemerkbar – wie das Beispiel der „Mumie“ zeigt.