Ernährung & Medizin 2012; 27(2): 49
DOI: 10.1055/s-0031-1298115
editorial
Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Editorial

Vitamin-Mobbing
Karlheinz Schmidt
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. Juni 2012 (online)

Zoom Image

Nun sind also die Vitamine 100 Jahre alt geworden und haben unter diesem Begriff ihre segensreiche Wirkung für Mensch und Tier in Deutschland und weltweit entfaltet. Ganz nebenbei gehören sie zu einer der wissenschaftlich am besten untersuchten Gruppen von Nährstoffen und kaum jemand bezweifelt, dass sie ähnlich wie die Mineralstoffe und Spurenelemente für unser Leben und unsere Gesundheit unerlässlich sind. Viele Menschen achten ganz besonders darauf, dass sie gut mit Vitaminen versorgt sind, und dennoch zeigt die Nationale Verzehrsstudie II (2008), dass sowohl Frauen als auch Männer in Deutschland die empfohlenen Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr zu einem hohen Prozentsatz nicht erreichen. Besonders dramatisch ist die Situation bei Vitamin D und bei Folsäure, wo 80–90 % der Frauen und Männer unter den Referenzwerten bleiben (▶Tab. [ ]).

Die immer wieder gebetsmühlenartig zu hörende Aussage, dass mit einer ausgewogenen Ernährung schon alles gut sei, trägt dieser Situation nicht Rechnung, da ein derartiges Ernährungsregime ein hohes Maß an Wissen, Zeitaufwand und finanziellen Mitteln erfordert und damit in einer Fast-Food- und Convenience-Gesellschaft völlig unrealistisch ist. Das heißt nicht, dass, wer es sich leisten kann, wer das Wissen hat, wer die Zeit hat und sich auf die Kochkunst versteht, nicht versuchen sollte, aus seiner Ernährung das Beste zu machen. Aber, für den Normalbürger sind neben angereicherten Lebensmitteln Nahrungsergänzungen eine realistische Alternative, um in einer modernen Gesellschaft zu einer bedarfsdeckenden Versorgung mit Mikronährstoffen zu kommen.

An dieser Stelle zeigt sich nun ein unerwartetes Phänomen, indem es offenbar nicht mehr in erster Linie darum geht, die Versorgung mit den essenziellen Mikronährstoffen sicherzustellen, sondern nach Art eines Kreuzzuges grundsätzlich gegen den modernen Lebensstil einer Anreicherung von Lebensmitteln und zur Ergänzung der Nahrung ins Feld zu ziehen. Die Publikumspresse greift begierig unhaltbare Aussagen von „Experten“ auf und beteiligt sich in unverantwortlicher Weise an dieser Mobbing-Kampagne gegen die Vitamine. Da werden Studienergebnisse fehlinterpretiert, sodass Vitamin C plötzlich zu einem gentoxischen Stoff erklärt wird. Da erhöht eine Zufuhr von Vitaminen plötzlich die Sterblichkeit, obwohl es dafür keinerlei Indizien gibt, im Gegenteil. Da versteigt sich ein „Experte“ zu der Aussage, dass Folsäure zu Darmkrebs führt, oder ein Gesundheitspolitiker negiert den im Winter unzweifelhaft bestehenden endemischen Vitamin-D-Mangel in Deutschland.

Auf diesen Aussagen basieren dann reißerisch aufgemachte Headlines von Magazinen wie „Vitaminlüge“ und Buchautoren machen mit dieser Verunsicherung der Bevölkerung ihre „Kranken Geschäfte“.

Dieses Mobbing haben weder die Vitamine verdient noch die vielen Menschen, die Vitamindefizite ernst nehmen und ihre Versorgung sicher stellen wollen.

Prof. Dr. Dr. Karlheinz Schmidt

Männer unter Referenzwert

Frauen unter Referenzwert

Vitamin B1

21,2 %

32,0 %

Vitamin B2

20,0 %

26,3 %

Vitamin B12

8,2 %

26,1 %

Vitamin C

31,9 %

29,3 %

Vitamin D

82,2 %

91,2 %

Vitamin E

48,4 %

48,7 %

Folsäure

79,0 %

85,8 %