Aktuelle Ernährungsmedizin 2012; 37(01): 19-21
DOI: 10.1055/s-0031-1298894
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Im Gespräch: EPaNIC – Abkehr von den europäischen Leitlinien?

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Publication Date:
14 February 2012 (online)

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Dr. Michael Casaer, Leuven.

Im Juni 2011 veröffentlichte Dr. Michael Casaer von der Universität Leuven seine Studie zum Effekt von früher versus später parenteraler Ernährung bei kritisch Kranken im New England Journal of Medicine. Seither hat die Studie für viel Wirbel in der Fachgemeinschaft gesorgt. Für die Aktuelle Ernährungsmedizin (AEM) stellte sich Casaer einigen Fragen zur Studie selbst und ihren Auswirkungen auf die Behandlung kritisch kranker Patienten.

AEM: Herr Dr. Casaer, Ihre Studie wurde in den letzten Wochen und Monaten vielfach zitiert und diskutiert. Könnten Sie hier noch einmal kurz das Ziel der Studie zusammenfassen?

Casaer: Ziel war es, in einer randomisierten kontrollierten Studie, die adäquat gepowert war, um aussagekräftige Unterschiede im klinischen Ergebnis festzustellen, den Effekt einer frühen parenteralen Ernährung zur Ergänzung einer ungenügenden enteralen Ernährung mit dem Verzicht auf parenterale Ernährung während der 1. Woche auf der Intensivstation zu vergleichen.

AEM: Was waren die Hintergründe zu der Studie?

Casaer: In den vergangenen Jahrzehnten haben Ärzte versucht, bei einer kritischen Erkrankung frühzeitig eine Hypoalimentation („Underfeeding“) zu vermeiden. Diese Strategie basiert auf der Beobachtung, dass Patienten, die früh im Verlauf einer schweren Erkrankung in ein Ernährungsdefizit geraten, ein schlechteres klinisches Ergebnis haben. Diese Beobachtung führte zu der Praxis, parenteral zu ernähren, wenn die enterale Ernährung alleine nicht ausreicht, um früh im Verlauf einer schweren Erkrankung die Ernährungsziele zu erreichen. Tatsächlich ist eine adäquate Ernährung auf dem enteralen Weg bei kritisch Kranken in der Regel unmöglich. Bisher ist jedoch keine adäquat gepowerte und objektive Studie durchgeführt worden, um zu testen, ob eine Nahrungsergänzung das klinische Ergebnis verbessert bzw. ob eine frühe parenterale Ernährung zur Ergänzung einer ungenügenden enteralen Ernährung von Nutzen ist.

AEM: Wie war das Design der Studie?

Casaer: Das einzige Studiendesign, das die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung zulässt, ist das einer randomisierten kontrollierten Studie. In Beobachtungsstudien ist es nicht möglich, zu erkennen, ob eine verbesserte Ernährung die Genesung fördert oder ob umgekehrt eine Genesung eine adäquatere Ernährung zur Folge hat. Wir haben deshalb eine randomisierte und kontrollierte Studie durchgeführt. Nach dem Zufallsprinzip wurde bei 4640 erwachsenen Patienten mit Ernährungsrisiko – identifiziert mittels NRS (Nutritional Risk Screening) – nach Einweisung auf die Intensivstation entweder früh oder spät mit einer parenteralen Ernährung begonnen (frühe PE bzw. späte PE). Zur Ermittlung des Effektes der frühen PE im Vergleich mit der späten PE wurde – unter anderem – die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation und im Krankenhaus, die Dauer des Organversagens und das Auftreten einer neuen Infektion in beiden Gruppen verglichen.

AEM: Was sind die wesentlichen Ergebnisse Ihrer Studie?

Casaer: Der Verzicht auf eine parenterale Ernährung in den ersten 8 Tagen auf der Intensivstation verkürzte den Aufenthalt auf der Intensivstation und im Krankenhaus. Obwohl die Patienten mit später PE früher aus dem Krankenhaus entlassen wurden, war ihr Zustand bei der Entlassung nicht schlechter als der der anderen Patienten. In der Gruppe mit der späten PE hatten weniger Patienten eine neue Infektion und die Entwöhnung von künstlicher Beatmung und Nierenersatztherapie war verbessert. Die Mortalität war in beiden Gruppen gleich. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Verzicht auf parenterale Ernährung während der 1. Woche einer kritischen Erkrankung die Genesung verbessert; das Auftreten eines Ernährungsdefizits scheint also von klinischem Nutzen zu sein.

AEM: Wie erklären Sie sich das?

Casaer: Unsere Hypothese zur Frage, warum die reduzierte Aufnahme von Nährstoffen (≙ späte PE) die Wiederherstellung der Organfunktionen verbessert und die Infektionsrate reduziert, besagt, dass eine Hypoalimentation die Autophagie verstärkt und damit zur Beseitigung von Zellschäden und zur Eliminierung von Mikroorganismen beiträgt. Die Autophagie ist ein katabolischer zellulärer Housekeeping-Prozess, der geschädigte Zellkomponenten (geschädigte Organellen und toxische Proteinaggregate) isoliert und nach der Fusion mit Lysosomen abbaut. Dieses hochkonservierte zelluläre Housekeeping-System ermöglicht die kontrollierte Eliminierung von zellulärem Abfall und die Wiederverwendung von recycelten Substraten. Tierexperimente haben gezeigt, dass dieser katabolische Mechanismus für den Erhalt der Skelettmuskulatur und der Integrität der Leber essenziell ist [1].

Die Forschergruppe des Labors für Intensivmedizin an der KU Leuven hat gezeigt, dass die Autophagie bei kritisch erkrankten Patienten ungenügend aktiviert ist und dies in Korrelation mit der Menge infundierter Aminosäuren steht [2]. Da Fasten ein wichtiger Vermittler der Autophagie ist, könnte das verbesserte klinische Ergebnis in der Gruppe mit später PE damit zusammenhängen, dass die Autophagie bei diesen Patienten im frühen Verlauf der kritischen Erkrankung adäquater aktiviert wird.

AEM: Gibt es andere Studien, die Ihre Ergebnisse stützen?

Casaer: Die EPaNIC-Studie ist die einzige adäquat gepowerte randomisierte kontrollierte multizentrische Studie, die diese Frage untersucht hat. Die Studie war von hoher methodologischer Qualität, sodass systematische Verzerrungen, wie sie in anderen Studien gefunden werden, auf ein Minimum reduziert sind.

Eine vor Kurzem durchgeführte kleine Pilotstudie – die TICACOS-Studie – untersuchte den Effekt einer durch indirekte Kalorimetrie individuell zugeschnittenen Nährstoffzufuhr im Vergleich mit der Zufuhr von Nährstoffen mit festgelegter Dosis [3]. Diese Studie fand eine höhere Infektionsrate und eine länger andauernde mechanische Ventilierung in der Gruppe mit individuell zugeschnittener Nährstoffzufuhr. Da die indirekte-Kalorimetrie-Gruppe mehr Nährstoffe – insbesondere über den parenteralen Weg – erhielt, ähneln die Ergebnisse dieser Pilotstudie denen der großen EPaNIC-Studie. Die Krankenhausmortalität war in der Gruppe mit individuell zugeschnittener Nährstoffzufuhr trotz länger andauernden Organversagens etwas niedriger. Wegen der geringen Größe dieser Studie können systematische Verzerrungen jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Es gibt auch eine kleine, nicht veröffentlichte Schweizer Studie, in der Patienten, die eine angemessene moderate Dosis enteraler Nährstoffe erhielten, zusätzlich eine geringe Dosis parenteraler Nährstoffe zugeführt wurde; die parenterale Ernährung wurde entweder am 4. oder am 8. Tag auf der Intensivstation eingeleitet. Da die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht worden sind, ist es schwierig, die Validität der Daten im Vergleich mit denen der EPaNIC-Studie zu beurteilen.

Eine vor Kurzem durchgeführte randomisierte kontrollierte Studie verglich eine trophische (geringes Energieangebot) enterale Ernährung mit einer frühen enteralen Ernährung mit vollem Energieangebot während der 1. Woche auf der Intensivstation [4]. Diese Studie fand für die frühe adäquate enterale Ernährung keinen Vorteil im Vergleich mit der trophischen Ernährung, wodurch ebenfalls das lange aufrechterhaltene Dogma infrage gestellt wird, dass die frühe adäquate Versorgung mit Nährstoffen den Verlauf einer kritischen Erkrankung verbessert, indem Ernährungsdefizite verhindert werden.

AEM: Ihre Studie hat ergeben, dass eine späte parenterale Ernährung einer frühen überlegen ist. Haben Sie an Ihrer Klinik bereits Konsequenzen daraus gezogen?

Casaer: Der positive Effekt des Verzichts auf parenterale Ernährung wurde bei allen erwachsenen Intensivpatienten festgestellt, unabhängig von der Art und Schwere ihrer Erkrankung. Eine Subgruppenanalyse zeigte, dass sogar die große Gruppe von 517 Patienten, die bei Aufnahme auf die Intensivstation eine chirurgische Kontraindikation für eine enterale Ernährung hatten, von der späten PE profitierte; dieser Effekt war sogar größer als der in der gesamten Studienpopulation. Dies bedeutet, dass bei Patienten, die nicht auf dem enteralen Weg ernährt werden konnten, das totale Fasten einer parenteralen Ernährung klinisch überlegen war! Die parenterale Ernährung richtete also gerade bei den Patienten, für die man sich von der parenteralen Ernährung den größten klinischen Nutzen erhoffte, den größten Schaden an.

Sobald diese Ergebnisse bekannt wurden, übernahmen alle an der EPaNIC-Studie teilnehmenden Intensivstationen das späte-PE-Protokoll für alle kritisch erkrankten Erwachsenen. Während der 1. Woche auf der Intensivstation wird nur 5 % Glukose für den Flüssigkeitsersatz gegeben. Alle Patienten erhalten parenterale Vitamine und Spurenelemente bis sie wieder vollständig enteral ernährt werden können. Mit der parenteralen Ernährung wird nur dann begonnen, wenn die enterale Ernährung nach 7 Tagen nicht ausreicht.

AEM: Sie ernähren in Ihrer Klinik jetzt also entgegen den ESPEN-Guidelines grundsätzlich spät parenteral. Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen damit?

Casaer: Wie wir im EPaNIC-Paper berichtet haben, ist die einzige Komplikation bei später parenteraler Ernährung eine leicht erhöhte Hypoglykämie-Inzidenz. Abgesehen von der Notwendigkeit einer adäquaten (Point-of-Care-Blutgasanalyse-basierten) glykämischen Kontrolle ist die Implementierung einer späten parenteralen Ernährung nicht kompliziert. Der klinische Effekt ist – wie berichtet – beeindruckend: weniger Infektionen, kürzere Dauer der Organersatztherapien und kürzerer Aufenthalt auf der Intensivstation und im Krankenhaus. Diese klinischen Vorteile führen zu einer wichtigen Reduzierung der Gesundheitskosten für Patienten, Krankenhäuser und Gesellschaft.

AEM: Haben Sie Folgestudien zum EPaNIC-Trial geplant?

Casaer: In unserer intensivmedizinischen Forschungsgruppe an der KU Leuven, die von Professor Dr. Greet Van den Berghe geleitet wird, führen wir derzeit zahlreiche Projekte auf den Gebieten Metabolismus und Endokrinologie durch. Zu diesen Projekten gehören klinische Studien, Tierexperimente und zellbiologische Experimente.

Was die EPaNIC-Studie betrifft, so ist unser wichtigstes Ziel, den Mechanismus zu entschlüsseln, über den das Vorenthalten von Nährstoffen das klinische Ergebnis verbessert. Die Wirkung von früher versus später parenteraler Ernährung auf die Autophagie untersuchen wir bei kritisch erkrankten Kaninchen und anhand von Patienten-Gewebeproben, die im Rahmen der EPaNIC-Studie entnommen wurden.

Eine multizentrische klinische Studie, die den Effekt von später versus früher PE bei kritisch erkrankten Kindern vergleicht, ist in Vorbereitung.

AEM: Als Kritik an Ihrer Studie wird angemerkt, dass die Ernährung der frühparenteralen Gruppe nicht den Empfehlungen der ESPEN-Guidelines entsprach (ausschließliche Glukosegabe, zu schneller Kalorienaufbau). Weshalb haben Sie sich in der Studie nicht streng an die LL gehalten?

Casaer: Die Kritik an der Dosierung der Nährstoffe, die wir in der EPaNIC-Studie gegeben haben, ist nicht gerechtfertigt. Wie Sie in Abbildung 2 unserer Veröffentlichung im New England Journal of Medicine sehen können, haben wir die Dosis nach Aufnahme auf die Intensivstation über mehrere Tage hinweg allmählich vergrößert, sodass das Ernährungsziel erst am Ende des 4. Tages erreicht wurde [5]. Die ESPEN-Leitlinie empfiehlt eine parenterale Ernährung, wenn die enterale Ernährung 2 Tage nach Aufnahme auf die Intensivstation nicht ausreicht, und das ist genau das, was wir gemacht haben. In der Gruppe mit früher PE hatten wir am 1. Tag auf der Intensivstation ein Ernährungsziel von 400 kcal, am 2. Tag waren es 800 kcal; falls diese Ziele enteral nicht erreicht wurden, wurde eine Glukoseinfusion gegeben. Glukose kann im Gegensatz zu Proteinen oder Lipiden in der frühen Phase einer Erkrankung metabolisiert werden, vorausgesetzt, dass Insulin verfügbar ist. Nicht die Glukoseaufnahme per se, sondern das Ausmaß der Hyperglykämie ist für kritisch kranke Patienten toxisch.

Die Kritik basiert zu einem großen Teil auf einer Fehlinterpretation der im Online-Anhang der EPaNIC-Veröffentlichung aufgeführten Informationen über die Berechnung des Energieziels. Die Berechnungen gehen von einem idealen Körpergewicht aus, und daher können Adipositas oder krankheitsbedingte Flüssigkeitsretention auf keinen Fall zu einer erhöhten Kalorienzufuhr geführt haben, wie einige Autoren fälschlicherweise angedeutet haben [6]. Die Formel, die wir für die Berechnung der Dosis verwendet haben, basiert auf der ESPEN-Leitlinie von 2006. Außerdem haben wir ein „Overfeeding“ dadurch vermieden, dass wir eine Obergrenze von 2800 kcal/d (inkl. Proteine) gesetzt haben; ein Overfeeding wurde also durch Anwenden der Richtlinien auf junge männliche Patienten ausgeschlossen. Außerdem sollte bedacht werden, dass alle Kalorienangaben Proteine miteinschließen.

Die derzeit verfügbaren Ergebnisse unserer Studie zeigen deutlich, dass bei kritisch Kranken der Verzicht auf Ernährung der Applikation von Nährstoffen in jederlei Dosierung überlegen ist. Deshalb geht diese Studie in keiner Weise auf das Overfeeding ein.

AEM: Fazit?

Casaer: Unsere Studie hat die Unterschiede zwischen den 2 vorhandenen Leitlinien untersucht: den amerikanisch/kanadischen Leitlinien und der ESPEN-Leitlinie. Unsere Studie beweist, dass die amerikanisch/kanadischen Guidelines richtig sind.

Dr. med. Claudia Fischer

 
  • Literatur

  • 1 Masiero E, Agatea L, Mammucari C et al. Autophagy is required to maintain muscle mass. Cell metabolism 2009; 10: 507-515
  • 2 Vanhorebeek I, Gunst J, Derde S et al. Insufficient activation of autophagy allows cellular damage to accumulate in critically ill patients. J Clin Endocrinol Metab 2011; 96: E633-E645
  • 3 Singer P, Anbar R, Cohen JEA. The tight calorie control study (TICACOS): a prospective, randomized, controlled pilot study of nutritional support in critically ill patients. Intensive Care Med 2011; 37: 601-609
  • 4 Rice TW, Mogan S, Hays MA et al. Randomized trial of initial trophic versus full-energy enteral nutrition in mechanically ventilated patients with acute respiratory failure. Crit Care Med 2011; 39: 967-974
  • 5 Casaer MP, Mesotten D, Hermans G et al. Early versus late parenteral nutrition in critically ill adults. N Engl J Med 2011; 365: 506-517
  • 6 Singer P, Pichard C. Parenteral nutrition is not the false route in ICU. Clinical Nutrition 2012;