PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(1): 89-90
DOI: 10.1055/s-0031-1298941
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Diagnostik und Therapieevaluation – doch eher eine Chance?

Volker  Köllner, Henning  Schauenburg
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Publication Date:
08 March 2012 (online)

Mehr als 70 Seiten zu Diagnostik und Therapieevaluation liegen nun hinter Ihnen … Den Anfang machten Jürgen Hoyer und Susanne Knappe mit ihrem Plädoyer für strukturierte Diagnostik und systematische Therapieevaluation. Beide zeigen anhand von Daten aus der Psychotherapieforschung, dass eine anhand strukturierter Methoden durchgeführte klassifikatorische Diagnostik die Gefahr therapeutischer Fehlentscheidungen minimiert und es erleichtert, Patientinnen und Patienten über ihr Krankheitsbild zu informieren und ihnen das therapeutische Vorgehen zu begründen. Wichtig ist auch, dass Patienten eine Diagnose nicht als einsortiert werden in eine Schublade erleben, sondern erleichtert sind, dass ihr Problem endlich einen Namen hat und fassbar geworden ist.

Die Argumente für strukturierte Diagnostik sind also stark. Trotzdem gibt es bei den Kolleginnen und Kollegen in Klinik und Praxis zahlreiche Vorbehalte. Hier scheint ein eindeutiger Widerspruch zwischen den Ergebnissen der Psychotherapieforschung und dem Vorgehen in der Praxis zu bestehen. Leider wird dieser Widerspruch bisher zwar gelebt, aber nicht zur Sprache gebracht. Möglicherweise deshalb, weil es nicht einfach ist, gegen „evidenzbasierten“ Zeitgeist zu argumentieren. Nun ist es gerade für uns PsychotherapeutInnen sehr unbefriedigend, wenn ein Konflikt zwar gelebt, aber nicht diskutiert wird. Deswegen waren wir als Herausgeber froh, dass es Eva-Maria Meiser-Storck gewagt hat, einen kritischen Artikel zu diesen Themen zu verfassen. Jede noch so sinnvolle auch „nur“ diagnostische Maßnahme hat auch Nebenwirkungen – und auf diese sollte im Diskurs hingewiesen werden. Nur wenn die Therapieforscher die Bedenken der Praktiker verstehen und ernst nehmen, besteht die Chance, voneinander zu lernen und die Ergebnisse der Therapieforschung wirklich in die Patientenversorgung einfließen zu lassen.

Auf unsere beiden Standpunkteartikel folgten die State-of-the-Art-Beiträge. Katharina Köck und Wolfgang Lutz stellen die Möglichkeiten der Therapieverlaufs- und Ergebnismessung im Rahmen der patientenorientierten Psychotherapieforschung dar. Regelmäßige psychometrische Verlaufsmessungen können u. U. kritische Verläufe in der Psychotherapie früher identifizieren und damit helfen, das therapeutische Vorgehen an die Situation anzupassen. Patienten empfinden das regelmäßige Ausfüllen von Fragebögen meist offensichtlich nicht als lästige Pflicht, sondern als Hinweis auf ein sorgfältiges Arbeiten ihrer Therapeutinnen und Therapeuten.

Strukturierte Diagnostik wird zwar meist mit Verhaltenstherapie in Verbindung gebracht, eines der am weitesten verbreiteten Systeme entstammt aber der psychodynamischen Tradition: die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD). Sie ergänzt die rein deskriptive Symptomdiagnostik um die Bereiche Krankheitserleben, Behandlungsvoraussetzungen, maladaptive Beziehungsmuster sowie relevante innere Konflikte und strukturelle Einschränkungen der Persönlichkeit. Die OPD geht somit weit über die reine Deskription der ICD hinaus – nicht umsonst wurde dieses in Deutschland entwickelte Verfahren auch international mit großem Interesse aufgenommen. Johannes C. Ehrenthal stellt dar, welche Chancen die OPD-Diagnostik für eine Verbesserung von Indikationsstellung, Therapieplanung und Gestaltung der therapeutischen Beziehung bietet.

Haben Systemiker ein Problem wirklich schon gelöst, bevor andere mit der Diagnostik fertig sind? Haben sie Diagnostik überhaupt nötig? Widerspricht das Auflisten von Problemen nicht einem lösungsorientierten Ansatz? Bodo Klemenz stellt in seinem Beitrag dar, wie Diagnostik um die systematische Erfassung von Ressourcen erweitert werden kann und welche Vorteile dies für die Gestaltung des therapeutischen Prozesses nicht nur in der systemischen Therapie bringen kann.

Unterscheiden sich die Ergebnisse strukturierter Diagnostik wirklich davon, was erfahrene Kliniker – noch dazu nach der Reflexion im therapeutischen Team – herausfinden? Dieser Frage ist die Untersuchung von Terber, Untersinger und Köllner gewidmet. Es zeigte sich am Beispiel der Angst- und Anpassungsstörungen, dass Kliniker unter Umständen andere Entscheidungsheuristiken im Kopf haben als die gängigen Diagnosesysteme, was zu systematischen Verzerrungen führen kann. So führt das Bedürfnis der Kliniker nach einer kausal begründeten Diagnose z. B. dazu, dass Anpassungsstörungen von ihnen wesentlich häufiger gefunden werden als in der strukturierten Diagnostik. Offen bleibt die Frage, wie dieser Widerspruch zu lösen ist. Sollten die Kliniker einfach nur diagnostisch nachgeschult werden oder ist es sinnvoller, die gängigen Klassifikationssysteme daraufhin zu überprüfen, an welchen Stellen sie die für Kliniker relevante Realität nur unbefriedigend abbilden?

Nach diesen eher grundlegenden Themen wechselte der Fokus des Heftes dann auf besondere Aspekte von Diagnostik und Therapieevaluation bei bestimmten Störungsbildern und speziellen klinischen Settings. Laura Pielmaier und Andreas Maercker stellen den Stand der Diagnostik in der Traumatherapie dar, Benjamin Gierk und Inka Wahl geben eine kritische und praxisnahe Übersicht zu im klinischen Alltag einsetzbaren Fragebögen zur Erfassung von Depression; Claas Lahmann und Andreas Dinkel berichten über Diagnostik bei somatoformen Schmerzstörungen und chronischem Schmerz. Hieran schloss ein Kurzbeitrag von Heinz Rüddel, Winfried Rief und Joel E. Dimsdale darüber an, welche Änderungen durch die Einführung von ICD-11 und DSM-5 auf dem Gebiet der somatoformen Störungen zu erwarten sind. Dank der Mitautorenschaft von Winfried Rief und Joel E. Dimsdale (dem langjährigen Vorsitzenden der American Psychosomatic Society und Herausgeber von Psychosomatic Medicine) ist PiD hier ganz am Puls der Zeit und kann direkt aus dem Entscheidungsprozess der neuen diagnostischen Systeme berichten. Klar wird durch diesen Beitrag aber auch, dass diagnostische Kataloge eben keine Naturgesetze, sondern definitorische Festlegungen sind, die letztlich auch Strömungen und Stimmungen unterworfen sind.

Besonders schwierig diagnostisch zu erfassen sind Persönlichkeitsstörungen. Gerade hier wurde immer wieder die diagnostische Unschärfe bei der Trennung der verschiedenen Subtypen kritisiert. Serge Sulz plädiert daher für eine Kombination von dimensionaler und kategorialer Erfassung von Persönlichkeitstypen, welche auch die Erfassung dysfunktionaler Schemata sowie eine Entwicklungs- und Strukturanalyse einbezieht. Hierdurch können wesentlich mehr therapierelevante Informationen gewonnen werden als durch eine bloße Einsortierung anhand der ICD-10-Kriterien. Sowohl in der stationären Psychotherapie als auch in der Psychotherapieforschung werden der Körper und die Bewegung zunehmend als Ressourcen erkannt, die auch in einer Gesamtdiagnostik einbezogen werden sollten. Alexander Heimbeck und Katharina Alexandridis stellen hierzu ihr 4-Phasenmodell zur Diagnostik in der Bewegungstherapie dar. Besonders innovativ ist hier die Visualisierung individueller Therapieziele gemeinsam mit dem Patienten nach der PRISM-Methode. Deutlich wird, dass die Diagnostik in der Bewegungstherapie ein spannendes Feld ist, auf dem noch viele Forschungsfragen auf Antworten warten.

Die folgenden vier Beiträge beschäftigten mit den Besonderheiten der Diagnostik in unterschiedlichen therapeutischen Settings: Jens Heider und Alexandra Zaby geben praxisnahe Empfehlungen für niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, hieran schließt sich die Darstellung von Bernhard Palmowski über ein von den Berliner Ärztinnen und Ärzten für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie entwickeltes Dokumentationssystem für die ambulante Versorgung an. Für den stationären Bereich stellen Benjamin Zimmer und Markus Moessner das Stuttgart-Heidelberger-Modell einer aktiven Qualitätssicherung durch Ergebnismonitoring und Feedbacksysteme auf der Basis eines entsprechenden Softwareprogramms dar. In der stationären Rehabilitation kommt es nicht nur auf die Sicherung der Diagnose, sondern auch die Dokumentationen von Einschränkungen und Ressourcen hinsichtlich Aktivität und Teilhabe im Sinne der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit (ICF) an. Eine besondere Rolle spielen hier berufsbezogene Aspekte von Diagnostik und Therapieevaluation. Einen Überblick über die Besonderheit der Diagnostik in der psychosomatischen Rehabilitation geben Markus Bassler, Birgit Watzke und Volker Köllner. Sie klären auch darüber auf, warum Reha-Entlassberichte so lang sein müssen …

Es folgte das Interview mit Hans Jochen Weidhaas, dem Vorsitzenden der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Er kennt wie kein anderer die Rahmenbedingungen unserer Versorgungs- und Finanzierungslandschaft. Sein Appell am Ende des Interviews, dass wir Psychotherapeuten nicht nur „Gutes tun, sondern das eben auch zeigen“ sollten, ist ein überzeugendes Plädoyer für sorgfältige Diagnostik und Ergebnismessung.

Abgerundet wird das Heft wie immer durch Buchempfehlungen zum Thema und DialogLinks. Den DialogLinks wollten wir in diesem Heft einen besonderen, leserfreundlichen Schwerpunkt geben: Wo finde ich im Internet möglichst kostenlos einsetzbare, aber trotzdem qualitätsgesicherte diagnostische Verfahren? Der alte Satz „was nichts kostet ist auch nichts wert“ scheint bei diagnostischen Instrumenten grundfalsch. Den beiden Autorinnen Sonja Heintz und Nadine Wunder ist es gelungen, eine große Anzahl qualitativ hochwertiger Open-Source-Instrumente für Sie aufzuspüren. Zu danken ist dies natürlich dem Engagement vieler Psychotherapieforscherinnen und -forscher, die bereit sind, ihre Instrumente kollegial zur Verfügung zu stellen anstatt sie zu vermarkten.

Wir hoffen, dass Sie nach der Lektüre dieses Heftes strukturierte Diagnostik und Therapieevaluation nicht nur als lästige Pflicht ansehen, um Kostenträger zu überzeugen, sondern hierin auch eine Chance sehen, ihr eigenes therapeutisches Handeln immer wieder kritisch zu hinterfragen, eigene blinde Flecken zu verkleinern und Neues zu lernen. Dies allerdings sollte sich immer auch auf Grenzen und blinde Flecken strukturierter Diagnostik und systematischer Ergebnismessung selbst beziehen.