Fortschr Neurol Psychiatr 2012; 80(2): 71
DOI: 10.1055/s-0031-1299125
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Autismus-Spektrum-Störungen

Autism Spectrum Disorders
J. Kornhuber
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Publikationsdatum:
25. Januar 2012 (online)

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) werden in den letzten Dekaden zunehmend häufiger diagnostiziert [8] und in der Öffentlichkeit, der medizinischen Versorgung sowie Forschung mit zunehmender Aufmerksamkeit betrachtet. Bei manchen Patienten, die ihre autistische Veranlagung im Kindes- und Jugendalter gut kompensieren können, wird die Störung erst im Erwachsenenalter diagnostiziert (ASS-E). Für diese Patientengruppe wurden in den zurückliegenden Jahren Autismussprechstunden für Erwachsene an Psychiatrischen Universitätskliniken eingerichtet, z. B. in Berlin, Erlangen, Freiburg und Köln. Die Studie von Lehnhardt und Mitarbeitern [6] aus der Kölner Autismussprechstunde fokussiert mit retrospektiver und deskriptiver Methodik auf das psychosoziale Funktionsniveau von ASS-E-Patienten.

Der autistischen Störung liegt wahrscheinlich ein „übermännliches Gehirn“ zugrunde. Diese vielbeachtete „Extreme-Male-Brain“(EMB)-Theorie zum Autismus wurde zuerst von Asperger formuliert [1] und später vor allem von der Gruppe um Baron-Cohen systematisch untersucht [2] [3]. Ursächlich für die autistische Störung ist demzufolge ein erhöhter Androgenspiegel während der Schwangerschaft, der das Gehirn irreversibel „übermännlich“ organisiert. Autismus ist damit neben Alkoholabhängigkeit [5] [7] ein weiteres Beispiel für eine psychische Störung, bei der ein erhöhter pränataler Androgenspiegel die Hirnfunktion dauerhaft in Richtung männliches Verhalten verändert.

Die Studie von Lehnhardt und Mitarbeitern [6] zeigt erwartete und unerwartete Befunde. Zu den erwarteten Befunden gehören z. B. das dysbalancierte Geschlechterverhältnis (2:1, männlich:weiblich) und die bevorzugte Wahl technischer Berufe. Da eine erhöhte embryonale Androgenbelastung prädisponierend für die Entwicklung einer späteren Alkoholabhängigkeit gilt, wäre eine hohe Komorbidität von ASS-E mit Alkoholabhängigkeit zu erwarten. Zumindest zeigen die bislang vorliegenden Daten eine hohe Prävalenz von Alkoholabhängigkeit in Familien von Indexpatienten mit ASS [9]. Interessanterweise trat Alkoholmissbrauch jedoch nur selten in der hier publizierten Studie an ASS-E-Patienten auf [6]. Die niedrige Prävalenz von Alkoholabhängigkeit bei ASS-E-Patienten wirft verschiedene Fragen auf:

  • Es ist denkbar, dass die Veranlagung zur Alkoholabhängigkeit aufgrund reduzierter Verstärker, wie Sozialkontakte, bei ASS-E-Patienten nicht zum Tragen kommt.

  • Die niedrige Komorbidität zwischen Alkoholabhängigkeit und ASS-E könnte dafür sprechen, dass ASS-E andere biologische Grundlagen hat als ASS und dass die EMB-Theorie für ASS-E-Patienten nur eingeschränkt gilt.

  • Eventuell sind in dem untersuchten Kollektiv neben ASS-E-Patienten zusätzlich Patienten mit differenzialdiagnostisch schwer abgrenzbaren Achse-I- oder Achse-II-Störungen enthalten. Das diagnostische Instrumentarium bedarf einer Weiterentwicklung, beispielsweise durch Einbeziehung des Fingerlängenverhältnisses 2D : 4D. Das Verhältnis zwischen Zeigefinger (2 D) und Ringfinger (4 D) ist vom pränatalen Androgengehalt abhängig [4] [10]. Damit könnte ein indirektes Maß der pränatalen Androgenbelastung für die Diagnostik von ASS-E-Patienten genutzt werden.

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Prof. Dr. J. Kornhuber