Fortschr Neurol Psychiatr 2012; 80(3): 129
DOI: 10.1055/s-0031-1299324
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Psychiatrie und Psychopathologie von Menschen mit geistiger Behinderung

Psychiatry and Psychopathology of People with Intellectual Disability
C.-W. Wallesch
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Publikationsdatum:
09. März 2012 (online)

Ich bitte um Nachsicht, dass ich als Neurologe ein Editorial zu einem „psychiatrischen“ Beitrag beisteuere. Grund dafür ist, dass ich mich gefreut habe und freue, dass sich die Fortschritte im aktuellen Heft einem Thema widmen, das mich immer fasziniert hat [1]. Die Arbeit von Sappok et al. befasst sich allerdings auch mit einem neurologischen Gegenstand, der im Beitrag dargestellte Patient leidet an einer „neurologischen“ Grunderkrankung und könnte auch zur Behandlung in eine neurologische Klinik aufgenommen werden.

Zwischen medizinischer Versorgung und Menschen mit geistiger Behinderung ist in den deutschsprachigen Ländern im Gefolge der Enthospitalisierung nach der Psychiatriereform eine Distanz entstanden, die sowohl die psychiatrische als auch die somatische Versorgung dieser Patienten erschwert.

Institutionen für Menschen mit geistiger Behinderung werden in der Regel von Theologen oder (Heil-)Pädagogen geleitet, die Distanz zum Medizinbetrieb ist teilweise groß. Die Schnittstellenproblematik ist erkannt worden und es gibt vielfältige Initiativen, sie zu schließen (z. B. [2]). Dabei stellt die psychiatrische Behandlung von Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht den Schwerpunkt bei ihrer gesundheitlichen Versorgung dar, sondern tritt gegenüber anderen Fachgebieten zurück, z. B. Zahnmedizin und Gynäkologie. Neurologen sind nur in wenigen Einrichtungen, z. B. für anfallskranke Behinderte, in die Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung eingebunden.

Menschen mit geistiger Behinderung, vor allem mit höhergradiger, leiden häufig an komorbiden sensorischen (Sehen, Hören), neurologischen Bewegungsstörungen (Anfälle) und psychiatrischen Erkrankungen (Prävalenz auf das 3- bis 4-Fache erhöht [3], darunter besonders häufig atypische Psychosen [4]). Hinzu treten Verhaltensstörungen, wie Stereotypien und Echolalie [5]. Schmidt [6] geht von einer erhöhten Vulnerabilität bei ungenügenden Fähigkeiten zur Stressbewältigung aus. Gemeinsam mit verminderter Fähigkeit zur Situationsanalyse kann es so zu unangemessenen Reaktionen in unbekanntem Umfeld kommen.

Geistige und häufig zusätzliche somatische Behinderung interferieren nicht nur mit der kognitiven und psychomotorischen Entwicklung, sondern auch mit der der Persönlichkeit, Emotionalität und des Sozialverhaltens, sodass auf Verhaltens- und Interaktionsebene eine große interindividuelle Variabilität besteht.

Die Mitarbeiter der ambulanten medizinischen Versorgung und der Krankenhäuser, vor allem der somatischen Fachrichtungen, aber auch der Psychiatrie, tun sich schwer, diesen Patienten gerecht zu werden. Der Artikel von Sappok et al. [1] verdeutlicht an einem Fallbeispiel eine Reihe wichtiger Aspekte:

  • Der Stand der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung bestimmt den Reifungsgrad der Persönlichkeit.

  • Diskrepanzen zwischen diesen Ebenen fördern das Auftreten psychischer Erkrankungen, von Verhaltensstörungen und situativ unangemessenem Verhalten.

  • Die entstehenden Symptomkomplexe bzw. die jeweilige Psychopathologie hängen von den Entwicklungsniveaus der genannten Ebenen ab. Dies erklärt die Vielfalt der psychopathologischen Bilder.

  • Ein klar strukturiertes Setting hilft beim Abbau von Spannungen, Aggressionen und Ängsten.

Zur gewählten Methode der Erhebung des emotionalen Entwicklungsniveaus will ich mich als Neurologe nicht äußern. Wichtig ist mir der Hinweis, dass im Umgang mit Menschen mit geistigen Behinderungen die Wahrnehmung nicht nur des kognitiven und psychomotorischen Entwicklungsstands, sondern auch der Persönlichkeit und Emotionalität erforderlich ist, um angemessen agieren und reagieren zu können.

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Prof. Dr. C.-W. Wallesch
 
  • Literatur

  • 1 Sappok T, Schade C, Kaiser H et al. Die Bedeutung des emotionalen Entwicklungsniveaus bei der psychiatrischen Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung. Fortsch Neurol Psychiatr 2012; 80: 154-161
  • 2 Seidel M (Hrsg) Die stationär-psychiatrische Versorgung von psychisch erkrankten Menschen mit geistiger Behinderung. Berlin: Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung; 2005 (im Internet verfügbar)
  • 3 Corbett JA. Psychiatric morbidity and mental retardation. In: James FE, Snaith RP, (eds) Psychiatric illness and mental handicaps. London: Gaskell; 1979: 11-25
  • 4 Lund J. The prevalence of psychiatric morbidity in mentally retarded adults. Acta Psychaitr Sand 1985; 72: 563-570
  • 5 Liepmann MC. Geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Bern: Huber; 1979
  • 6 Schmidt MH. Psychische Störungen infolge von Intelligenzminderungen. In: Petermann F, (Hrsg) Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie. Göttingen: Hogrefe; 1995: 351-379