Arzneimittelforschung 2011; 61(11): 642-643
DOI: 10.1055/s-0031-1300570
PMS-Symposium Innovative Therapies in Palliative Care
Editio Cantor Verlag Aulendorf (Germany)

II. Symptomkontrolle (I)

Neues in der Opioidtherapie
Lukas Radbruch
1   Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn und Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
06. Februar 2012 (online)

Die Behandlung starker Schmerzen mit Opioiden ist seit dem Altertum beschrieben, und seit der Beschreibung des Morphin durch Friedrich Sertürner in 1805 ist diese Opioidtherapie weiter entwickelt und standardisiert worden. Die Entwicklung neuer Opioide im 20. Jahrhundert hat die Therapieoptionen deutlich erweitert, zuletzt mit der Einführung der transdermalen Therapiesysteme seit 1995. Mittlerweile stehen orale Applikationsformen von Morphin, Hydromorphon und Oxycodon mit schnell wirksamer und retardierter Pharmakokinetik zur Verfügung, nicht nur als Tabletten, sondern auch als Kapseln oder Lösung. Transdermale Systeme sind mit drei- bis siebentägiger Wirkdauer, mit Buprenorphin und Fentanyl und in verschiedenen Wirkstärken verfügbar.

Das Spektrum der Applikationsformen wurde in den letzten Jahren vor allem für die Behandlung von Durch-bruchschmerzen erweitert, zur intrabuccalen, sublingualen und intranasalen Anwendung. Interessanterweise sind die Anflutungsgeschwindigkeiten bei der intranasalen Anwendung so hoch, dass Nebenwirkungen wegen der hohen Spitzen in den Serumkonzentrationen auftreten, und der Hersteller deshalb Pektin zur Verlangsamung der transmukösen Passage hinzufügte.

Bei all diesen Neuerungen handelt es sich aber um Applikationsformen für schon lange eingeführte Opioide. Neue Substanzen sind in der klinischen Entwicklung spärlich. Frühere Versuche mit delta-Agonisten, die theoretisch gute supraspinale Analgesie ohne die morphintypischen Nebenwirkungen erwarten ließen, wurden wegen hoher Nebenwirkungsraten abgebrochen. Neue Substanzen an anderen Opioidrezeptoren werden derzeit nicht getestet.

Als einzige neue Substanz ist in den letzten Jahren Tapentadol eingeführt worden. Tapentadol ist ein zentral wirksames Analgetikum, das zwei Wirkmechanismen in einem Molekül kombiniert. Zum einen wirkt die Substanz am µ-Opioidrezeptor agonistisch, zum anderen hemmt sie die Wiederaufnahme von Noradrenalin. Nach den Angaben des Herstellers interagiert die norad-renerge Wirkkomponente in Tapentadol mit der opio-idergen Komponente, so dass beide synergistisch zur analgetischen Wirkung der Substanz beitragen. Damit soll eine hohe Effektivität mit guter Verträglichkeit einhergehen. Tapentadol stellt damit eine konsequente Weiterentwicklung eines Prinzips dar, das bereits von Tramadol genutzt wurde. Die Morphinbindung ist bei Tapentadol 50-fach schwächer als bei Morphin, während es hinsichtlich der Noradrenalin-Wiederaufnah-mehemmung mit Venlafaxin vergleichbar ist.

Andere Weiterentwicklungen der Opioidtherapie zielen mehr auf die Nebenwirkungen der Opioidtherapie ab als auf die analgetische Wirkung. So hat die Einführung einer festen Kombination von Oxycodon und Naloxon zum Ziel, die opioidbedingte Obstipation zu vermeiden. Der Antagonist Naloxon bindet bei oraler Aufnahme an den Opioidrezeptoren der Darmwand und verhindert so die Aktivierung dieser Rezeptoren durch das Oxycodon. Danach wird Naloxon aber vollständig in einem First-pass-Effekt in der Leber abgebaut, so dass die Analgesie durch das systemisch aufgenommene Oxycodon nicht beeinträchtigt wird.

Ähnlich sind auch neue Entwicklungen in der Laxan-tientherapie zu sehen, bei denen weiterentwickelte Antagonisten an den µ-Rezeptoren in der Darmwand die opioidbedingte Obstipation verhindern sollen. So wirkt subkutan verabreichtes Methylnaltrexon systemisch als Antagonist, also auch in der Darmwand, kann aber nicht die Barriere in das Zentralnervensystem passieren und somit auch die Opioidanalgesie nicht beeinträchtigen. Bei dieser wie auch bei anderen neuen Applikationsformen und Therapien stehen die hohen Therapiekosten aber einer weiten Verbreitung in der Praxis entgegen.

Während diese Neueinführungen die Palette der Therapieoptionen in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich erweitert haben und damit auch eine gute Anpassung der Therapie an die individuellen Bedürfnisse der Patienten ermöglicht wird, scheint für die Umsetzung der Schmerztherapie in der klinischen Praxis die Implementierung von Leitlinien zur Tumorschmerztherapie wichtiger zu sein. Die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Tumorschmerztherapie von 1986 und die Empfehlungen der European Association for Palliative Care (EAPC) zur Opioidtherapie von Tumorschmerzen aus dem Jahr 2003 haben klare Standards vorgegeben. Beide Leitlinien sind allerdings derzeit in Überarbeitung. Dabei sind gegenüber der bisherigen Formulierung schon deutliche Änderungen in den Empfehlungen zu erkennen.

Vor allem wird die WHO-Stufenleiter mit ihrer Einteilung in Nichtopioide (Stufe 1), Opioide der Stufe 2 (z.B. Tramadol) und Opioide der Stufe 3 (z. B. Morphin) in Frage gestellt. Bei der EAPC lautet die entsprechende Empfehlung: „Für Patienten mit milden bis mittleren Schmerzen oder wenn die Schmerzen nicht ausreichend mit regelmäßiger oraler Gabe von Paracetamol oder nichtsteroidalen Analgetika gelindert werden, kann die orale Kombination mit einem Opioid der Stufe 2 (z. B. Codein oder Tramadol) zu einer guten Schmerzlinderung ohne belastende Nebenwirkungen führen. Alternativ kann eine niedrige Dosierung eines Stufe-3-Opioids eingesetzt werden.”

Ebenso wird die bisherige Betonung von Morphin als Goldstandard aufgeweicht. Hier formulieren die EAPC-Empfehlungen: „Die Datenlage zeigt keinen wesentlichen Unterschied zwischen Morphin, Oxycodon und Hydromorphon bei oraler Applikation. Dies führt zu einer schwachen Empfehlung, dass jede dieser drei Substanzen als Stufe-3-Opioid der ersten Wahl bei mittleren bis starken Tumorschmerzen eingesetzt werden kann”.

Diese Empfehlungen spiegeln im Wesentlichen die Entwicklungen wider, die in den spezialisierten Zentren in Westeuropa schon seit einiger Zeit praktiziert wurden. Große Teile im Zentrum und im Osten Europas sind allerdings von einer solchen Versorgung noch weit entfernt. Eine Umfrage unter Onkologen und Palliativmedizinern beleuchtete die deutliche Diskrepanz zwischen der Verfügbarkeit und Versorgung mit Opioiden in West- und Osteuropa. Dies ist zum Teil mit der rigiden Gesetzgebung in vielen osteuropäischen Staaten verbunden, zum Teil auch mit einem tiefen Misstrauen gegenüber diesen Medikamenten und der Angst vor Abhängigkeit und Missbrauch. Im europäischen Projekt „Access to Opioid Medications in Europe” (ATOME) versucht ein internationales Konsortium in Kooperation mit der WHO, die Verfügbarkeit und den Zugang zu Opioiden in 12 Ländern in Ost- und Südeuropa zu verbessern.

Durch Implementierung der Leitlinien und Projekte wie ATOME können höchstwahrscheinlich mehr Palliativpatienten eine gute Schmerzlinderung erfahren als durch die Einführung neuer Substanzen oder Applikationsformen. In der Behandlung komplexer Schmerzsyndrome in den spezialisierten Zentren steht mit den neuen Applikationsformen und den verfügbaren Substanzen ein breites Angebot von Therapieoptionen zur Verfügung, mit dem eine effektive Schmerzlinderung bei fast allen Patienten möglich ist.