RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/s-0031-1300717
Lebertoxizität und regulatorische Anforderungen
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
30. Dezember 2011 (online)

Der häufigste Grund, warum in den letzten Jahrzehnten Medikamente aus Sicherheitsgründen vom Markt genommen werden mussten, ist die Lebertoxizität. Prominente Beispiele sind Bromfenac, Iproniazid, Nefazodon, Ticrynafen, Ximelagatran und Troglitazon. Bei anderen Präparaten wurde wegen ihrer Leberunverträglichkeit die Zulassung eingeschränkt, wie z. B. bei Felbamat, Isoniazid, Labetalol und Trovafloxazin. Dilevalol und Tasosartan erwiesen sich schon in klinischen Studien als hinreichend leberkritisch, um die Zulassung von vornherein zu versagen. Die durch Arzneimittel ausgelöste Lebertoxizität, im englischen Sprachraum DILI (drug-induced liver injury) genannt, verantwortet etwa 10% aller unerwünschten Arzneimittelreaktionen und bedauerlicherweise von allen Ursachen auch die meisten mit fatalem Ausgang. Auch wenn schwere DILI-Fälle selten sind, ist dies ist Anstoß genug, nach den regulatorischen Positionen und Anforderungen an Forschung und Entwicklung neuer Medikamente zur Vermeidung von Lebertoxizität zu fragen.
Die präklinische Risikovorhersage von unerwünschten hepatischen Wirkungen beim Menschen ist schwierig, da die Lebertoxizität weder beim Tier noch beim Menschen wissenschaftlich befriedigend verstanden ist. Retrospektiv gesehen waren nur 46–60% der für den Menschen hepatotoxischen Substanzen schon im Nagetier hepatotoxisch. Nimmt man Nichtnagerergebnisse hinzu, erhöhte sich der vorhergesagte Anteil um 2–3%. Die präklinische Vorhersage der seltenen idiosynkratischen Leberschädigung ist sogar unmöglich, da sie in der Regel nur humanspezifisch auftritt und nicht dosisabhängig ist. Wiederholt kamen quantitative retrospektive Analysen von präklinischen Daten bei idiosynkratischen Leberschäden zu diesem Ergebnis.
Vor diesem Hintergrund hat die European Medicines Agency (EMA) im Juni 2010 anstelle einer ursprünglich geplanten „Non-clinical guideline” ein „Reflection paper on non-clinical evaluation of DILI” veröffentlicht, dessen Entstehungsgeschichte die wissenschaftliche Kenntnislücke widerspiegelt. Nach dem heutigen Stand bleiben die präklinischen Standardmethoden der Arzneimittelentwicklung nach der M3-Leitlinie der International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH) das Fundament der Suche nach Lebertoxizität. Ihnen folgt eine zusammenfassende und integrierte Risikoanalyse. Diese schließt die Stärke der Effekte, ihre Beziehungen zur Dosis und zur Exposition, die für klinische Studien vorgesehenen Indikationen und Patientengruppen sowie die Möglichkeiten zur klinischen Überwachung der Patienten ein. Sie leitet auch eine Sicherheitsgrenze für Patienten auf der Basis eines „No-adverse effect level” (NOAEL) von den Tierbefunden ab. Schließlich sollen, wann immer gerechtfertigt, spezifische, hypothesenbasierte In-vitro-Untersuchungen mit metabolisch kompetenten Zellen (z.B. metabolische Charakterisierung, Cytochrom-P450-Induktion, neue Biomarker) ein mögliches Risiko für Patienten weiter klären. Solche mechanistischen Studien sollen nur dann im Tier stattfinden, wenn dadurch klinische Relevanz erreicht werden kann.
Während die EMA die Diskussion auf die präklinische Lebertoxizität fokussiert, hat die Food and Drug Administration der USA (FDA) ein „Guidance document” zur „Premarketing Clinical Evaluation” von DILI erarbeitet und im Juli 2009 veröffentlicht. Die Anleitung adressiert speziell, wie Labordaten, die ein DILI-Potential signalisieren, generiert und ausgewertet werden sollen. Das Ziel ist, das Risiko einer schwerwiegenden DILI, d.h. ein irreversibles Leberversagen mit erforderlicher Transplantation oder mit fatalem Ausgang, abzuschätzen. Denn nur die offensichtlichsten Lebertoxine zeigen sich mit Einzelfällen einer schweren DILI in den 1000 bis 3000 Patienten, die typischerweise vor der Marktzulassung in klinischen Studien untersucht worden sind. Die meisten Medikamente, die wegen Lebertoxizität wieder vom Markt genommen werden mussten, haben in weniger als 10 von 100 000 Patienten eine Transplantation erfordert oder den Tod verursacht.
Die „Guidance” verlässt sich darauf, dass Cholestaseinduzierende Medikamente nicht für die schweren DILI-Fälle verantwortlich sind, da in der Regel die Cholestase nach Absetzen des Medikamentes reversibel ist. Dagegen stehen die Substanzen im Zentrum des Laborrasters, die Leberzellen strukturell schädigen, damit eine Leckage von Aminotransferasen (AT) ins Blut verursachen und die exzessive Bilirubin-Auscheidungskapzität der Leber quantitativ so weit vernichten, dass eine Hyperbilirubinämie resultiert.
In Anerkennung der Beobachtungen von Hyman Zimmerman [1] basiert die von der FDA empfohlene DILI-Analyse im Wesentlichen auf „Hy’s Law”, der Vorhersage einer transplantationspflichtigen oder fatalen DILI in 10% der Patienten, die unter Behandlung eine deutliche AT-Erhöhung verbunden mit einem Ikterus erleiden, ohne dass es einen anderen Grund für eines der beiden Symptome gibt.
Zu den Hauptindikatoren eines Risikos für eine schwere DILI zählen danach:
-
Deutlich mehr Patienten mit AT-Erhöhungen über dem Dreifachen der oberen Normgrenze als in der Kontrollgruppe.
-
Deutliche AT-Erhöhungen bis zum Fünf-, Zehn- oder Zwanzigfachen der oberen Norm in einer kleineren Anzahl von Patienten, die nicht oder seltener in der Kontrollgruppe beobachtet wurden.
-
Ein oder mehr Fälle mit auf das Zweifache der oberen Norm angestiegenem Gesamtbilirubin (ohne Hinweis auf eine Obstruktion, eine behinderte Glukuronidie-rung oder eine andere Erklärung) und einer rein hepato-zellulären Arzneimittelschädigung bei gleichzeitig mehr Patienten mit AT-Erhöhungen über dem Dreifachen der oberen Normgrenze als in der Kontrollgruppe.
Nicht nur die Vorhersage des Risikos nach Zulassung, sondern auch das Management des Risikos in der klinischen Studie ist Gegenstand der „Guidance”, wie z.B. Regeln zum rechtzeitigen Absetzen, zur Wiederaufnahme und zur Dosisreduktion.
Eine Reihe von Fragen bleibt offen, wie z. B. die Risikoeinschätzung von gemischt hepatozellulär-cholestatischen und rein cholestatischen Schädigungen, die von mitochondrialen Veränderungen und die der mikrovesikulären Verfettung. Auch passt der Typus der schweren DILI durch einige Substanzen nicht zu „Hy’s Law”, wie z. B. der von Fialuridin (metabolische Azidose) oder Perhexilen (alkoholähnliche Schädigung). Schließlich wird noch kontrovers diskutiert, ob z.B. „Hy’s Law” durch eine Erhöhung der alkalischen Phosphatase wirklich auszuschließen ist, ob die Abbruchregeln nicht doch zu konservativ sind oder ob eine Wiederaufnahme der Behandlung nicht öfter erwogen werden sollte.
Obwohl noch viele Fragen offen bleiben, sind die in jüngster Zeit veröffentlichten regulatorischen Positionen zur Lebertoxizität von Arzneimitteln – seien sie als Reflektion des gegenwärtigen Kenntnistandes mit der Aufforderung zur weiteren Erforschung oder als praktisch anwendbare Leitschiene für die klinische Forschung und die Bewertung von Zulassungsunterlagen präsentiert – treibende Kräfte für einen substantiellen Fortschritt in der Sicherheit der Patienten vor unerwünschten Leberschädigungen durch Arzneimittel.
-
Literatur
- 1 Zimmerman HJ. Drug-induced liver disease. In: Hepatoxicity, the adverse effects of drugs and other chemicals on the liver. 2nd ed. Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins; 1999