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DOI: 10.1055/s-0031-1301137
Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980
Publication History
Publication Date:
13 January 2012 (online)
Noch ein dickes Buch zur Psychiatriegeschichte? Sind nicht längst alle Aspekte umfassend aufgearbeitet worden? Offensichtlich nicht. Das Buch der Freiburger Historikerin Cornelia Brink beschäftigt sich nicht mit der Ideengeschichte der Psychiatrie und nicht mit den Therapieformen, sondern es richtet das Augenmerk auf das Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft.
Dabei gibt es drei große Themenschwerpunkte: Die Rechtsstellung des psychisch Kranken, das Image der Psychiatrie in der Öffentlichkeit und die Finanzierung der psychiatrischen Institutionen. Mit nüchternem Blick von außen analysiert die Autorin mit vielem Quellenmaterial, wie Ärzte lange Zeit Eingriffe von juristischer Seite in ihr Machtmonopol eher zu verhindern suchten und die Legislative es, auch angesichts dieser Widerstände, bis heute nicht vermochte, die Unterbringung in psychiatrischen Kliniken in Deutschland einheitlich zu regeln.
Die Kehrseite der Anstalt als absolute Institution mit eigenen Gesetzen waren freilich die "Irrenhausskandale", die besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Öffentlichkeit erheblich beschäftigten und bereits damals erhebliche Bemühungen im Hinblick auf Aufklärung und Selbstdarstellung seitens der Psychiatrie nach sich zogen. Sehr erhellend ist die akribische Dokumentation der Finanzierungsregularien und deren gesellschaftlicher Randbedingungen, die den Ausbau des psychiatrischen Anstaltswesens erst ermöglichten.
Der traditionell in der psychiatrischen Geschichtsschreibung vertretenen These (Foucault, Dörner, Castel, Güse/Schmacke), dass die große Welle der Anstaltsgründungen und Institutionalisierung die Folge der industriellen Revolution war, welche unproduktive Gesellschaftsmitglieder ausgrenzen musste und die Gesunden als Arbeitskräfte benötigte, wird hier implizit die Gegenthese gegenübergestellt, dass erst der Ausbau der Sozialsysteme es ermöglichte, einen Ausbau des Anstaltswesens für breite Bevölkerungsschichten einschließlich der Armen zu realisieren. Wenn man im Gegensatz zu diesen Großinvestitionen in ganz Europa vor dem ersten Weltkrieg das Kapitel über die Ökonomisierung der Irrenfürsorge in den Krisenjahren der Weimarer Republik liest, wird deutlich, dass eine Ausrichtung der Medizin unter ökonomischen Gesichtspunkten keineswegs etwas Neues ist und die gesellschaftlich definierten Kompromisse zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren in der Vergangenheit genauso wie heute in einem engen Kontext zur wirtschaftlichen Entwicklung standen.
Die Rolle der Ärzte in dieser Geschichtsschreibung, die auch noch die "Euthanasie-Aktionen" der NS-Zeit und den Weg zur Psychiatrieenquête umfasst, ist erwartungsgemäß zwiespältig. Die Autorin arbeitet heraus, dass die politische Positionierung der führenden Psychiater, sei es im Hinblick auf Gesetzgebungsverfahren oder die Identifikation mit Sparvorschlägen, häufig mehr eigenen Interessen als demWohle der Patienten diente.
Dieses Buch ist ein großer Gewinn für die Psychiatriegeschichte und es arbeitet wichtige Aspekte auf, die bisher nicht in einer zusammenfassenden Darstellung zu lesen waren. Dafür verzeiht man der Autorin die Entgleisung im Vorspann auf der dritten Seite, Bezug nehmend auf die Psychiatrie der Gegenwart: "Doch für die Mehrzahl der Kranken ist der Schritt über die Schwelle der Anstalt, sind Behandlung und Versorgung in spezifischer Weise mit Zwang verbunden." Hier hat die Autorin nicht recherchiert – schließlich erfolgt heute nur noch eine kleine Minderheit der Aufnahmen in psychiatrischen Kliniken unfreiwillig und die seit dem Ende dieser Geschichtsschreibung (1980) eingetretenen Änderungen sind durchaus dramatisch.
Tilman Steinert,Weissenau
E-Mail: tilman.steinert@zfp-zentrum.de