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DOI: 10.1055/s-0031-1301147
Messmethoden – Neues virtuelles "Cocktail-Party-Geräusch"
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
23. Januar 2012 (online)
Die meisten von Ihnen werden wahrscheinlich lieber an einer realen Cocktailparty teilnehmen als an einer virtuellen – doch Spaß beiseite: Bei der Messung des Sprachverstehens im Störschall sind die häufig verwendeten Breitband- oder Schmalbandgeräusche realitätsfremd und ein reales Stimmengewirr (audiologisch als "Babbling" bzw. Gebrabbel bezeichnet) ist nicht verfügbar oder nicht standardisiert. Es wird aber für die Diagnostik zentraler Hörstörungen und auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen dringend benötigt.
J Am Acad Audiol 2011; 22: 294–305
Verschiedene Entwicklungsstufen der Störgeräuschsimulation sind bekannt. Die einfachste Stufe ist ein Störgeräusch, das aus derselben Richtung wie das Sprachsignal angeboten wird, d.h, es wird aus demselben Lautsprecher angeboten – der MAUS-Test, ein Screening auf AVWS, basiert auf dieser Anordnung. Man kann damit aber nicht prüfen, ob ein Proband einen Nutzen aus binauralen Hörfunktionen zieht, denn unterschiedliche Schallrichtungen von Sprachsignal und Störgeräusch sind ja nicht vorhanden, man benötigt aber auch nur eine 1-kanalige Audiometrieanlage. Sprachverstehen im Störschall, vermittelt durch binaurale Verarbeitung, kann man nur prüfen, wenn man Störgeräusch und Sprachsignals aus unterschiedlichen Richtungen anbietet, z.B. Sprache von vorne und Störschall von hinten. Dazu benötigt man 2-kanalige Audiometer – heute eigentlich Standard in der Pädaudiologie und ambitionierten Erwachsenen-Audiologie.
Doch auch dies kommt der realen Störschallsituation noch nicht nahe genug, denn meistens lauschen wir einem Sprecher, den wir ansehen (Schallrichtung von vorne), während wir gleichzeitig unterschiedliche Störschallquellen aus verschiedenen anderen Richtungen zu bewältigen haben. Deshalb verwendete man bisher als "preiswerte" Verbesserung der Realitätsnähe einen Deckenlautsprecher, der ein sogenanntes Diffusfeld erzeugte – dazu reichten wieder 2-kanalige Audiometer aus. Allerdings fehlt hier die Verschiedenartigkeit des sprachähnlichen Rauschens aus verschiedenen Richtungen. Der einzige Ausweg aus den bisherigen Beschränkungen ist also ein Störschall, der sprachähnlich ist, der aus verschiedenen Richtungen unterschiedlich klingt und dazu noch simuliert, dass man sich inmitten einer Gruppe von sich miteinander unterhaltenden Personen befindet, während man einen Sprecher der eigenen Gruppe verstehen soll. Klar soweit?
Sorry, aber nun wird’s heftig: Das Störsignal sollte dabei nicht ein einfaches elektroakustisches Rauschen sein, denn die Zeitstruktur von Sprache ist ganz anders und (bei gleichem Pegel wie ein Rauschen) viel "störender". Es wird ein Signal benötigt, das im zeitlichen Verlauf der Dynamik und im Langzeitspektrum normaler Sprache ähnlich ist. Deshalb entwickelten die Autoren – unglaublich, aber wahr – ein neues quadrophones Partygeräusch. Dieses besteht aus 4 verschiedenen "Brabbel-Sequenzen", die aus Lesepassagen von 10 min Dauer von 4 Sprechern (2 weibliche und 2 männliche) quasi endlos und zeitlich versetzt gemischt wurden. 4 verschiedene Abmischungen wurden erzeugt, je eine für die 4 Ecken eines Audiometrieraumes (audiologisch ausgedrückt: in Position 45 °, 135 °, 270 ° und 315 °). Diese 4 verschiedenen "Brabbel-Sequenzen" wurden auf 2 2-kanalige CDs gebrannt (denn die Quadro-Schallplatten-Technik der 1970er Jahre gibt’s leider nicht mehr), die gleichzeitig über 2 Stereo-CD-Player, 4 Mono-Verstärker und die 4 Lautsprecher abspielt werden. Als Sprachsignal wird der IEEE-Satztest aus dem Jahr 1969 verwendet, der über einen 5. Kanal für die Schallrichtung "vorne" (0 °) abgespielt wird. Kaum zu glauben: Die Audiometrie ist im Dolby-Surround-Zeitalter angekommen!
16 normalhörige Probanden (6 männlich, 10 weiblich) nahmen für eine 1. Normierung teil. Der Test begann mit einem Störschallpegel (das Gebrabbel) von 55 dB(A) und einem Sprachpegel (der Satztest) von 65 dB(A), also mit einem Signalrauschabstand (SNR) von 10 dB (d.h. 10 dB mehr Signal als Rauschen). Bei diesem Signalrauschabstand betrug das Sprachverstehen bei den meisten Probanden knapp 50 %. (Zum Vergleich: beim Oldenburger Satztest, der eine andere Lautsprecheranordnung verlangt, versteht man noch 50 % bei -5 dB, d.h. wenn der Störschall etwa 5 dB lauter als das Nutzsignal eingestellt ist.) Dann wurde das Störschall in 2dB-Schritten leiser eingestellt, bis die Probanden etwa bei +2 dB SNR meist 100 % verstanden und anschließend wurde der Störschall in 2 dB-Schritten lauter eingestellt, bis sie bei 15 dB Pegeldifferenz nichts mehr verstanden (0 %). Die sigmoide Verstehens-Kennlinie ist natürlich der des Oldenburger Satztests ähnlich. Das Ergebnis des Tests kann wie bei allen Satztests in verschiedenen Maßzahlen ausgedrückt werden, wobei sich wohl die auch beim Oldenburger Satztest bewährte "Speech Reception Threshold (SRT), also das Signal-Rauschverhältnis beim 50 %–Sprachverstehen, durchsetzen wird. Vielleicht könnte man auch das quadrophone Gebrabbel (in deutscher Sprache erzeugt) mit den wenig redundanten Sätzen des Oldenburger Satztests kombinieren?
Viele werden jammern: Nun kommt schon wieder ein neuer Test, der zu allem Unglück fast die Hardwarekosten eines Dolby-Surround-Kinos erfordert – muss das denn unbedingt sein? Neue audiologische Indikations- und Wirksamkeitsnachweise, besonders bei den Hörgeräteversorgungen geringgradiger und minimaler Hörverluste und Cochlea-Implantationen bei unilaterale Taubheit, verlangen Messtechnik, die die überwiegend positiven Erfahrungen der Patienten auch in Zahlen fassen, und dazu reichen die bisherigen Tests nicht aus. Die Begeisterung der Patienten entsteht durch den "Verstehenserfolg" im störgeräuschreichen Alltag, im Gruppengespräch während der Arbeit und nach Feierabend, auch auf "Partys", was immer man darunter verstehen mag – den Erfolg, den wir bisher nur in Fragebogentests erfassen, aber nicht messen konnten. Deshalb: keine Scheu vor neuen Tests!
Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler, Lübeck