Suchttherapie 2012; 13(01): 1-2
DOI: 10.1055/s-0032-1304679
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – "Das Thema lag auf der Hand"

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Publication Date:
09 February 2012 (online)

 

Seit über 30 Jahren befasst sich Prof. Michael Klein, Köln, therapeutisch und forschend u. a. mit den psychosozialen Einflussfaktoren von Suchterkrankungen und mit Präventionsansätzen bei Kindern und Jugendlichen. Das folgende Interview entstand als Erweiterung des aktuellen Schwerpunktthemas Binge Drinking.

? Prof. Klein, Sie gehören zu den wenigen Suchtforschern in Deutschland, die sich schon früh mittels empirischer Forschung des sozialen Umfelds von Suchtkranken angenommen haben. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen und welchen Forschungsstand haben Sie damals vorgefunden?

Das Thema lag auf der Hand. Es nicht zu entdecken, war unmöglich. Ich war viele Jahre als Leitender Psychologe in verschiedenen Suchtfachkliniken tätig. Viele unserer Patienten entstammten aus suchtbelasteten Familien. Mindestens so viele wie in der Allgemeinbevölkerung hatten Kinder, deren oft desolate Situation während der Wochenenddienste erkennbar wurde. Und schließlich wurde die Rolle der Angehörigen, meist Frauen, und Eltern von Drogenabhängigen, die oft unter unübersehbaren Stresssymptomen litten, immer wieder deutlich. Ihnen wurde aber, abgesehen von dem völlig undifferenzierten Co-Abhängigkeitskonzept, wenig angeboten; effektive Hilfe schon gar nicht.

Die aufkommende Familientherapie wurde durch grobe berufs- und fachpolitische Fehler der Verbände- und Fachvertreter mit Erfolg aus der Suchthilfe "draußen gehalten". In dieser Situation waren neue Ansätze und Perspektiven gefragt. Die Forschungslage in Deutschland war genauso desolat wie die Situation in der Praxis. Aber ich entdeckte schnell, dass es eine jahrzehntelange Forschungstradition in den USA und Skandinavien gab, an die es Anschluss zu gewinnen galt – bei der nach wie vor dürftigen Förderung psychosozialer Suchtforschung in Deutschland eine nahezu unmögliche Aufgabe. Künftige Wissenschaftler mögen beurteilen, was hier tatsächlich bisher gelungen ist.

? Aus einer Systemperspektive betreffen Suchterkrankungen unterschiedliche Beziehungs-arten; u. a. Kinder, Partner und Eltern von Suchtkranken. Wo sehen Sie bezüglich der Auswirkung der Suchterkrankung und der geeigneten Interventionsangebote Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede?

Sicherlich muss es alters- und geschlechtssensible Unterschiede geben und solche, die die jeweilige Beziehung und Bindung berücksichtigen. So benötigen Kinder und Jugendliche oft Schutz, Bindung und Orientierung für ihr Leben. Bei Partnern von Suchtkranken ist neben Klärung und Schutz oft eine Aufarbeitung der psychisch belasteten Biografie in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter notwendig.

Es ist jedoch zusätzlich wichtig, die Interaktionen und intrapsychischen Prozesse zu betrachten, die bei allen nahestehenden Personen eines Suchtkranken geschehen. In diesem Zusammenhang denke ich vor allem an innerfamiliären Stress, zunehmende Scham- und Schuldgefühle sowie an Tabuisierungs- und kognitive Verzerrungsprozesse.

Auch die Veränderung von Selbstbild und Selbstkonzept spielt eine entscheidende Rolle. Genauso wenig wie Menschen suchtkrank sein wollen, wollen Menschen Angehörige von Suchtkranken sein. Es bedarf eines längeren Entwicklungs- und Veränderungsprozesses, um erstmals oder wieder klar die innerfamiliären Prozesse wahrzunehmen und die Emotionen zu "sortieren". Dies ist oft schmerzhaft und hart, am Ende aber stehen oft entscheidende Veränderungen und intensive Wachstumsprozesse. Das Phänomen der Resilienz bei Kindern und Angehörigen und im Familiensystem hilft uns, diese Prozesse besser zu verstehen.

? Wie hat sich aus Ihrer Sichtin den letzten 30 Jahren die Versorgungspraxis für Ange-hörige von Suchtkranken verändert? Welche weiteren Veränderungen in der Versorgungslandschaft sind aus Ihrer Sicht notwendig?

Ich kann in den letzten 30 Jahren leider nur marginale Verbesserungen der Versorgungspraxis für Angehörige Suchtkranker feststellen. Noch immer hemmt das individuumsorientierte Versorgungssystem den Blick auf die notwendigen Hilfen im "System Familie". Neue Modelle, wie z. B. CRAFT, TRAMPOLIN oder MDFT, die eine gute theoretische Herleitung, hohe Plausibilität und meist gute empirische Evidenz aufweisen, sind daher in Gefahr, sich nicht nachhaltig durchsetzen zu können. Auch die motivierenden Ansätze auf der Basis des Motivational Interviewing lassen sich sinnvoll und effektiv im Angehörigenbereich anwenden. Die in den 1980er- und 1990er-Jahren mit großer Euphorie gestartete Systemische Therapie ist im Suchtbereich aus vielerlei Gründen – hausgemachte und versorgungsbedingte – sozusagen auf der Strecke stecken geblieben. Hier braucht es neue Anreize und Konzepte.

Ein auf den Prinzipien und Ergebnissen der empirischen Psychotherapieforschung begründetes umfassendes Hilfe-, Präventions- und Therapiekonzept scheint mir hier am aussichtsreichsten. Allerdings müssen auch die Politik und in der Folge die Kostenträger sich bewegen, um ein generationengerechtes Hilfesystem im Bereich psychischer Störungen aufzubauen. Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Es bedarf dringend frühzeitiger, umfassender und nachhaltig wirksamer Hilfen für die Personen im Umfeld von Suchtkranken, eine im Übrigen ja größere Personengruppe als die Suchtkranken selbst.

? Bei erwachsenen Angehörigen Suchtkranker wird gerne das Attribut der Co-Abhängigkeit eingesetzt. Was ist aus Ihrer Sicht von diesem Konstrukt zu halten?

Das Co-Abhängigkeitskonzept entbehrt jeder zufriedenstellenden empirischen Grundlage. Es wirkt stigmatisierend und homogenisierend. Angehörige von Suchtkranken sind mindestens so heterogen, wie die Gruppe der Suchtkranken. Es bedarf differenzierender Hilfen. Im Vordergrund sollten motivierende und stressmodifizierende Hilfen stehen. Für die kleine Gruppe der Angehörigen, die von einem Co-Abhängigkeitsmodell profitieren kann, das im Grunde latent ein Persönlichkeitsstörungskonzept umfasst, kann dieser Ansatz weiterhin sinnvoll sein. Auf jeden Fall ist die Forschung zum Thema "Partner von Suchtkranken" deutlich zu stärken. Hier gibt es im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren kaum noch einschlägige Publikationen.

? Jugendlicher Konsum von Alkohol und/oder Drogen gerät periodisch in den Fokus der (Fach-)Öffentlichkeit und der Medien. Welche Haltung sollte eine aufgeklärte Öffentlichkeit diesbezüglich Ihrer Meinung nach einnehmen?

Der Konsum von Alkohol und anderen Substanzen unter Jugendlichen ist bekanntermaßen oft ein entwicklungspsychologisches Durchgangsstadium. Hier sind präventive Konzepte, die die Lebenskompetenz des Einzelnen stärken, und risikoreduzierende Ansätze genauso zu fordern wie verhältnispräventive Ansätze. Ein Policy-Mix, u. a. bestehend aus der dosierten Anhebung der Alkoholsteuern und des legalen Alters zum Kauf aller alkoholischen Getränke auf 18 Jahre, könnte die gesundheitspolitische Lage schon längst entspannt haben. Nicht zuletzt müssen die Schulen in Deutschland ihren pädagogischen Auftrag hinsichtlich der gesunden psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen endlich auch umfassend in Bezug auf Suchtmittel wahrnehmen. Dies bleibt bislang allzu oft im Dschungel föderaler und kommunaler Unklarheiten und Doppellösungen auf der Strecke. Für die bis zu 10 % der Jugendlichen, die meist schon in der Kindheit psychologisch auffällig waren und die dauerhaft bei einem problematischen Substanzkonsum bleiben, gilt es, frühe Hilfen und verbesserte selektive und indikative Prävention zur Verfügung zu stellen.

Die Fragen stellte
Dr. Gallus Bischof, Lübeck

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"Der Konsum von Alkohol und anderen Substanzen unter Jugendlichen ist oft ein entwicklungspsychologisches Durchgangsstadium," sagt Prof. Michael Klein.(Bild: Gerd Altmann/pixelio.de)

Zur Person
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Prof. Michael Klein, Klinischer Psychologe und approbierter Psychotherapeut, lehrt an der Katholischen Hochschule NRW in Köln Klinische Psychlogie und ist Leiter des dortigen Deutschen Instituts für Sucht- und Präventionsforschung und des postgradualen Master-Studiengangs Suchthilfe und Suchttherapie.