PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(2): 61-66
DOI: 10.1055/s-0032-1304980
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Das eint uns, diese grundsätzliche Frage: Hätte man was anders machen können?“

Eine Patientin und eine Psychiaterin im Gespräch mit Maria  Borcsa
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Publication Date:
13 June 2012 (online)

Das folgende Interview wurde von Maria Borcsa mit einer Psychiaterin und deren langjähriger Patientin geführt. Während der Behandlung der Patientin hatte die Psychiaterin auch einige Sitzungen mit deren Sohn, da dieser Auffälligkeiten zeigte. Der Sohn suizidierte sich in dieser Phase. Beide Elternteile sind ebenfalls Ärzte[1].

PiD: Zunächst möchte ich Ihnen danken, dass Sie gekommen sind …. Frau L. hatte Sie ja gefragt, ob Sie an dem Gespräch teilnehmen möchten … könnten Sie bitte zu Beginn mal erzählen, wie und wann Sie sich begegnet sind?

Frau M.: Also begegnet sind wir uns im Dezember 2003, ich hatte eine ernstere Erkrankung und eine OP, und das war dann so, dass die Behandlung auch mit Komplikationen verbunden war und ich mich gleichzeitig beruflich verändern wollte, und ich habe mich lange damit beschäftigt und wusste eigentlich in der Zeit gar nicht so genau … also da war so eine Distanzlosigkeit … bei anderen Leuten wüsste man genau: mach das, mach das … aber für sich selber, wusste ich das dann eben nicht. Weil alles so schwierig war … dann hatte ich mich aber entschlossen, mich beruflich zu verändern und das war aber, weil das zwölf Jahre dort waren, das ist mir eben auch ziemlich schwergefallen und insofern bin ich dann eben zu der Behandlung gekommen. Das war so ein Berg für mich.

Da haben Sie sich kennengelernt?

Frau M.: Genau. Und das ist ja eigentlich schwierig, da jemanden zu finden und das war dann eigentlich auch so, dass ich den Eindruck hatte, dass es eben in gewisser Weise dringlich wäre und … da war das eben über eine Vermittlung zustande gekommen. In der Stelle für onkologische Patienten waren auch Psychotherapeuten und wir haben uns dann so ein bisschen unterhalten; und dann hatte ich aber den Eindruck, dass es günstiger sei, vielleicht mit Medikamenten eine Behandlung zu machen und das war dann so der Punkt …

Das heißt … Ihnen wurde Frau L. empfohlen?

Frau M.: Ja, das war durch eine Vermittlung.

Ja. Und das ging auch relativ zeitnah?

Frau M.: Ja, das ging dann ruckzuck.

Und es war ihnen auch wichtig damals?

Frau M.: Dass es schnell geht?

Ja.

Frau M.: Ja.

Okay. Und das heißt, Sie waren da eine Weile in Behandlung?

Frau M.: Ja.

Auch in medikamentöser Behandlung haben Sie gesagt, das sei Ihnen wichtig gewesen?

Frau M.: Ja.

Und was denken Sie, wenn Sie an diese Zeit zurückdenken, was in dieser Zeit wichtig war in der Behandlung für Sie?

Frau M.: Naja, das war eine ziemlich belastende Situation und dass ich alles bewältigen konnte, das war mir wichtig. Ich neige dazu, mir immer über alles so Gedanken zu machen und das schaukelt sich dann so hoch und … Das ist was, was einen behindert eigentlich, sich zu konzentrieren und ich hatte auch zeitlich … Also ich musste die Dinge in bestimmten Zeiten erledigen und bewältigen. Und ja, dann musste ich mich eben konzentrieren. Und da war es dann ja auch so mit Ängsten und immer solchen Zweifeln und so eben und das wollte ich weghaben.

Und was war unterstützend?

Frau M.: Ja. Also ich meine es ist einmal die reine pharmakologische Wirkung und vielleicht auch immer das Bewusstsein, du hast jetzt was und jetzt geht das. Was ungemein beruhigend ist … Im März, da hatte ich eine Bewerbung abgegeben und dann war das erst mal zum Ruhen gekommen … Ich weiß auch nicht, warum das so lange geruht hat und ich hatte das schon fast vergessen, Ende August rief jemand an und dann ging das so … Bin ich da eingeladen worden zum Vorstellungsgespräch und eigentlich jeder Schritt, das war alles so ambivalent, dann dachte ich na gut, es ist ja nicht verbindlich, jetzt fährst du mal da hin … Und das hat sich dann auch so zugespitzt, also die Entscheidung, ob ich das überhaupt mache.

Dass Sie sich beruflich verändern wollten, hatte das mit der Erkrankung zu tun oder war das vorher schon?

Frau M.: Ja im wesentlichen Teil. Also vorher … das ging bei mir immer so, dass ich um halb acht reingefahren bin und um halb zehn abends raus und irgendwie dann gab es mal so eine Phase, wo ich irgendwie … Da dachte ich, wenn du das jetzt so weitermachst, dann drehste hier noch durch. Dann habe ich also irgendwie gelernt, Grenzen zu ziehen, also auch einen Anrufbeantworter anzumachen und dann bin ich einmal in der Woche schwimmen gegangen … dann habe ich gesagt: Du musst aus dieser Mühle raus. Aber da hatte ich noch nicht die Idee, dass ich beruflich etwas anderes mache, und ohne die Erkrankung wäre das sicher auch nicht gekommen.

Wie lange nach der OP haben Sie denn Gespräche aufgenommen?

Frau M.: Ja, das war eben dann, als ich schon wieder so halbwegs irgendwie zu Fuß war, vielleicht acht Wochen später oder so. Weiß ich jetzt nicht mehr so genau.

Wenn ich Sie mal fragen darf, Frau L., wenn Sie mal an diese Phase Ihrer Zusammenarbeit zurückdenken, was denken Sie, was hat Frau M. am meisten geholfen?

Frau L.: Also, ich glaube, in der Zeit ging es erst einmal um die Frage, einen Anlaufpunkt zu finden, also so wie Sie das auch vorhin gesagt haben, nicht? Wir haben relativ schnell über Medikation geredet. Neben allen anderen Dingen, die wie gesagt viel mit Arbeitsorganisation und solchen Sachen zu tun haben … also sich wieder ordnen, so was ja. Wobei, ich fand Sie für das, was Sie so durchgemacht hatten, waren Sie schon relativ gut geordnet, zu der Zeit, wo wir uns kennengelernt haben. Aber das, was sicherlich wichtig war, ist jemanden zu finden, zu dem man gehen konnte, den Eindruck hatte ich. Jemanden zu finden, der sagt: Okay, jetzt müssen wir möglicherweise auch mal aufhören, für alles irgendwelche Erklärungen zu finden, sondern einfach mal das Problem benennen. Wir haben hier im Anschluss an eine schwere onkologische Erkrankung mit Komplikationen ein depressives Zustandsbild und da muss man erst mal eine gewisse Zeit auch Pillen einnehmen. So. Und da hatte ich dann schon auch den Eindruck, da konnten wir uns relativ schnell darauf einigen.

Frau M.: Ja, das war ja der Zeitpunkt, wo ich schon auf dem Dreh war, die alte Arbeit abzuwickeln und das war eben so schwierig.

Frau L.: Und es war auch zusätzlich zu diesen anderen Dingen, die mit dieser Erkrankung waren, auch zusätzlich noch mal ein Abschiedsprozess, der, ich sage es jetzt mal so, auch dann irgendwie so eine Eigengesetzlichkeit entwickelte. Denn die Arbeitsstelle musste abgewickelt werden, es gab viele Dinge zu tun, Sie hatten eine ziemlich hohe Belastung. Also Sie waren schon, fand ich, als Sie zu mir kamen, noch sehr, auch verständlicherweise, sehr beeindruckt von dieser schweren Erkrankung, sehr beeindruckt davon, dass Sie etwas erwischt hat, was es laut Lehrbuch eigentlich nicht so häufig oder gar nicht geben sollte. In dem Alter nicht, da haben wir auch manches Mal darüber gesprochen. Wissen Sie noch, wie häufig wir uns gesehen haben? Am Anfang so vierzehntägig, alle drei Wochen, so was?

Frau M.: Jaja, am Anfang war das kürzer. Es ging ja auch darum, wie das Medikament anschlägt usw. Da sind ja die Abstände ein bisschen kürzer.

Und irgendwann, das hatte mir Frau L. erzählt, haben Sie sich Sorgen gemacht um Ihren Sohn. Dann haben Sie ihn also zum Thema gemacht in Ihrem Gespräch, ist das richtig? Können Sie dazu was sagen, wie das aus Ihrer Sicht war?

Frau M.: Also wahrscheinlich war ich doch schon eher da, weil wir uns schon eine Weile kannten, und ich hatte das so zwei, drei Mal angesprochen …

Frau L.: Also wir kannten uns einige Monate, als nach meiner Erinnerung Sie das erste Mal angefangen haben darüber zu berichten, dass Ihnen aufgefallen ist, dass Ihr Sohn so was hat, was wir Psychiater Tag-Nacht-Umkehr nennen. Also nachts viel unterwegs ist und wach ist, viel am Computer sitzt und so. Das ist so der erste Punkt, an den ich mich erinnere.

Frau M.: Im Sommer noch, da war das alles schön. Geändert hat sich das dann eben Mitte Dezember. Und der Beginn war so, dass da so Unruhezustände waren. Also unsere Maisonettewohnung, wo so eine Treppe ist, und das Kind hatte geraucht und irgendwie war das eben eine Nacht, das war Donnerstag zu Freitag, weiß ich auch noch. Da ging immer die Tür, da ist er immer aus seinem Zimmer raus in die Küche rein, geraucht, Türe zu, klapp klapp, wieder in sein Zimmer, aber kaum war er dort, da ging das wieder so. Und das habe ich mir eine Weile angehört und dann konnte ich das eben nicht einordnen, weil es das bisher noch nicht so gegeben hatte. Also bin ich runtergegangen, und wir haben uns dann unterhalten, das ging bis 7.20 Uhr und um 7.30 Uhr musste ich zur Arbeit. Und vielleicht hätte ich an dem Punkt sagen müssen, hier ich ruf an, kann heute nicht kommen oder so, aber ich habe dann gesagt: „Wir müssen uns heute Nachmittag weiter unterhalten, ich muss jetzt erst mal gehen …“ Und da bin ich das erste und letzte Mal ungewaschen in die Garage gefegt und bin da also zur Arbeit.

Und ja, im Nachhinein sind das solche Sachen, wo man sagt, wie hast du denn die Dinge gewichtet, hättest du durchaus anders machen können … Da waren so Denkinhalte, die eben aus dem Rahmen fallen, dass man sagt, das ist nicht mehr so in dem normalen Spektrum, wo man so Stimmungen hat oder so Gedanken hat. Aber es war noch nicht zu Ende beredet. Ja, dann haben wir uns im Folgenden immer weiter unterhalten, und dann war ich auch ab Januar krankgeschrieben, und wir haben eigentlich viel Zeit gehabt, uns zu unterhalten. Und ich hatte dann also den Eindruck, dass eine Behandlung her muss, was er aber nicht so wollte oder am Anfang eigentlich etwas entrüstet oder empört von sich gewiesen hatte, und dann hatte das ja auch keinen Sinn. Man muss ja erst mal das Einsehen versuchen zu erreichen, und das hat dann im Grunde noch bis, ich glaube, Anfang Februar gedauert.

Und dann hat er von sich aus zugestimmt?

Frau M.: Eben nein. Ich habe immer versucht, zu erklären oder zu motivieren und dann war er auch bereit sich dahin zu begeben, aber nicht weil er jetzt erkannt hat, dass irgendwas nicht stimmt, sondern er hatte dann gesagt, er hat das mir zuliebe gemacht. Also er ist mir zuliebe in Behandlung gegangen.

Wie hat er denn auf Sie gewirkt, Frau L.?

Frau L.: Also das Erste ist, dass man sich meistens als Psychiater erst mal ein Stückchen sträubt, Mutter und Sohn zu behandeln. Und da hatten wir im Vorfeld auch darüber gesprochen und Sie sagten aber: Ich habe Sorge, sonst geht der nirgendwo hin. Und dann habe ich gesagt: Gut, okay, dann machen wir das jetzt erst mal, ja. Also der Teil war im Vorfeld, dass wir beide also schon überlegt haben, ob das wirklich so klasse ist, ich sage das jetzt mal so überspitzt: wenn Mutter und Sohn den gleichen Nervenarzt haben.

Als er dann das erste Mal bei mir war, habe ich einen jungen Mann gesehen, der, das war relativ schnell sehr deutlich, zu mir gekommen war, weil Mama gesagt hatte: Mach das mal. Sich einerseits entschieden hatte das zu tun, aber auch sehr zurückhaltend war, wie das dann häufig in solchen Situationen ist, erst mal dagesessen und zugehört hat und ich habe so versucht, so ein bisschen zu erfahren, was so gerade da war. Diese Dinge, die ich von meiner Patientin, also von der Mutter gehört hatte, was sie so beunruhigt hatte, nämlich dass ihr Sohn so Dinge miteinander in Beziehung gesetzt hat und auch so Dinge gegen sich gerichtet erlebt hat. Das ist etwas gewesen, was, das habe ich so angeboten, so in der Möglichkeitsform: Naja es gibt ja Menschen, die zu uns kommen …, so wie man das dann macht, ja? Und manch einer erlebt das und manch einer erlebt das und ist das irgendwas, was Sie kennen? Das kam sehr verhalten. Aber was gelang, war, dass er wiederkam. Also ich kann mich an Termine, die vereinbart wurden, erinnern, da ist er auch gekommen. Wir kennen ja auch eine Reihe von Patienten, die dann nicht kommen.

Frau M.: Aber auch nur immer … da ich gesagt habe, du musst da hin. Manchmal hat er es ja auch verpasst.

Frau L.: Ja, das schon, aber im Prinzip ist es so gewesen … Man hätte ja auch sagen können, es gibt diesen einen Termin und er kommt nicht wieder. Das ist nicht passiert. Es hat da mal so einen Bestellzettel gegeben, so mit nächstem Termin und irgendwann habe ich auch mal Medikation angeboten und hab auch ein Rezept ausgestellt und ihr Sohn ist damit …

Frau M.: …in die Apotheke.

Frau L.: Das weiß ich dann schon nicht mehr, aber offensichtlich ist er in die Apotheke und hat das Zeug geholt und hat dann auch auf Nachfragen, wenn ich ihn dann wiedersah, gesagt: Jaja, er würde das einnehmen, er wird das vielleicht nicht so einsehen, aber mhmhmh ja …

Frau M.: Da musste man aber auch immer aufpassen … Hast du deine Pillen eingenommen?

Frau L.: Es war auch immer so … Eigentlich, wie wir sagen würden, so ein typisches, typisch klingt immer ein bisschen blöd, aber so ein typisches Ding, wo man als Psychiater darum ringt, mit jemanden in Kontakt zu kommen. Das hat die Beziehung zu Ihrem Sohn und mir, denke ich, richtig charakterisiert. Wo ich immer den Eindruck habe, ich weiß nicht mal ein Viertel von dem, was in diesem Menschen vor sich geht. Nicht ein Viertel. Das ist aber, da haben wir auch schon mehrfach darüber gesprochen, das ist aber prinzipiell in solchen Kontaktaufnahmen auch nicht wirklich etwas Besonderes, das passiert häufiger. Sodass die Strategie auch erst mal war: Kontakt anbieten, weiter Kontakt anbieten ja … Also irgendwann haben wir dann auch mal gesagt ja, dass es Menschen gibt, die wegen solcher Sachen auch in die Klinik gehen.

Frau M.: (andere Stimmlage) „Die sitzen da alle im Kreis und die sind verrückt, aber ich gehe da nicht hin. Ich bin ja nicht verrückt und ich will auch nicht hören von den anderen und mein Zeug da erzählen, das will ich alles nicht.“

Frau L.: Wobei vieles, was Sie erzählt haben, was Ihr Sohn Ihnen gesagt hat, hat er mir gar nicht gesagt. Bei mir kam eher so was Verhaltenes an, wie: Ja, ich höre mir das mal an, mh ne das möchte ich nicht. Warum möchten Sie das nicht? Mh nö, das möchte ich nicht. Also eher so, wirklich so was, wo man das Gefühl hat, da sitzt jemand vor einem, der hat schon irgendwie ein Anliegen, aber er bekommt es in der Situation nicht hin, das in irgendeiner Weise zu formulieren. Da war mir auch relativ schnell klar, dass die Einschätzung der Mutter nicht irgendwie überbesorgt oder sonst irgendwas war, sondern dass es da um ein reales Problem ging. Dass es um Behandlung ging, aber eben auch darum, ich muss gucken, dass der Kontakt aufrecht bleibt und dass ich nicht mit irgendwelchen Sachen, intrusiven Vorschlägen, dazu Anlass gebe, dass der Kontakt abgebrochen wird und der Patient zu mir sagt: Nee, zu der will ich nicht mehr. Auch so die Bestellsituation war so, dass es immer so eine Aushandlung gab, also da kann ich mich noch gut daran erinnern.

Und wie oft haben Sie ihn gesehen Frau L.?

Frau L.: Also gefühlt, ich habe jetzt die Akte nicht noch mal studiert, gefühlt würde ich so sagen, an die sechs bis acht Mal. Irgendwie so was um den Dreh.

Und wie haben sie, Frau L., dann erfahren von dem Suizid?

Frau L.: Es war im Sekretariat der Ambulanz, die zweite Sekretärin sagte: Frau Dr. L., da ist die Frau M. am Telefon und ich nahm den Hörer in die Hand und Sie sagten am Telefon: Mein Sohn hat sich das Leben genommen. Das war morgens, relativ früh.

Frau M.: Das war am Tag danach … Am nächsten Morgen.

Das heißt Sie haben am nächsten Vormittag Frau L. angerufen und haben ihr das dann gesagt. Haben Sie sich dann bald gesehen?

Frau M.: Ja, relativ bald.

Frau L.: Wobei ich jetzt auch nicht sagen kann, wie bald.

Frau M.: Ein paar Tage später. Also wir mussten dann erst mal zur Polizei. Identifizierung und solche Sachen machen. Da waren so Wege. Ich glaube, das war dienstags und dann vielleicht Anfang der nächsten Woche, denke ich.

Frau L.: Wobei also …

Frau M.: … Sie mal gesagt haben, wenn was ist, kann ich sofort kommen.

Frau L.: Ja. Was mir jetzt gerade noch wichtig war … Mich hatte das in der Situation schon völlig aus dem Kalten erwischt, weil bei all dem, dass ich nicht den Eindruck hatte, dass das wirklich eine gut funktionierende therapeutische Beziehung war, hatte ich in unseren Gesprächen zu keinem Zeitpunkt, trotz dieser Fragen, die man als Psychiater immer stellt, zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, es handelt sich jetzt hier wirklich um eine akute Suizidalität, wo man irgendwas tun muss. Also dieses Thema, dass jemand mit einer Erkrankung, ich habe damals die Verdachtsdiagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis gestellt … dass jemand mit so einer Erkrankung, gerade wenn das beginnt, ein Risiko hat, was das angeht, das war mir schon klar, aber dass das sozusagen jetzt ansteht, dass das nahe ist oder dass ich eine Gefährdung in den letzten Tagen vorher gesehen hätte, die mich beispielsweise dazu gebracht hätte zu sagen: Also jetzt muss ich mit irgendjemand reden, jetzt müssen wir beispielsweise auch eine Klinikeinweisung erwägen, gegen den Willen des Patienten oder so was, das war in dieser Unmittelbarkeit nicht der Fall, sodass mich das an dem Morgen als Frau M. anrief, schon erheblich aus den Puschen gehauen hat. Das habe ich noch sehr genau in Erinnerung …

Hatten Sie sowieso einen Termin?

Frau M.: … Jaja, wir hatten einen Termin, aber ich bin dann mit meinem Mann zusammen … Also wir haben uns dann zu dritt unterhalten.

Was war denn damals nützlich in dem Gespräch für Sie als Eltern?

Frau M.: Ja, es ging eigentlich meinem Mann mehr … dass er sich überhaupt irgendwie damit auseinandersetzt, weil er eben zu den Problemen, wo das so losging, da hat er so gesagt: Ach, U. raucht zu viel, der soll erst mal aufhören zu rauchen und sich vernünftig abends hinlegen, ins Bett und nicht immer nachts so viel rumfuhrwerken an seinem Computer und wer weiß, was der sich da für Seiten anguckt. Also der U. hatte immer gesagt: Das ist fürs Studium und das ist abends am billigsten. Und so hat er das immer begründet, dass der da nachts bis um zwei Uhr … Erstens habe ich es dann nicht kontrolliert, weil irgendwann … Ich bin damals zu der Zeit, da war ich immer so … puh … bin ich in mein Bett gefallen und blubb war ich weg, eingeschlafen. Und ich habe eigentlich so im Studium, ich habe auch viel abends gelernt oder so über Nacht, das war mir jetzt nicht so fremd und dann dachte ich immer, ja der muss das machen und dann hat er gesagt: Ja und dann ist das ja noch so am billigsten usw. Ich habe ihn dann irgendwann auch mal angesprochen, ich sage: Ej guckste dir da irgendwie so schräges Zeug an oder wie? Und dann war er auch ein bisschen erbost, wie ich so was vermuten könnte und was er aber nun angeguckt hat … Ich denke schon zum Beispiel, dass er später auf entsprechenden Portalen unterwegs gewesen ist.

Auf Suizid-Portalen?

Frau M.: Ja genau. Weil das war so „perfekt“, Fenster abkleben usw., das hätte er sich nicht selber ausgedacht. Das war, wie wir im Nachhinein vermuten konnten, nicht der erste Versuch, weil da einige Tage dieses Staubsaugerrohr, das Gummiding da auf der Garderobe lag, und mir ist das dann irgendwann aufgefallen und da habe ich eben gesagt: Was ist denn das hier mit diesem Schlauch? Dann hat der U. gesagt: Das ist von mir, da habe ich meinen Auspuff daran festgebunden, weil irgendwas ist da nicht in Ordnung. Und da habe ich gesagt: Ein Auspuff, der wird doch warm und wenn du da mit so einem Plaste-Gummi-Schlauch da irgendwas festbindest, da brennt es doch dann und ja, da hat er irgendwie so gesagt: „Naja ich räume das schon weg.“ Und da habe ich auch gar nichts weiter in dem Moment gedacht, also im Nachhinein dann schon und der Schlauch, der war einfach zu kurz gewesen oder so und dann wird der auch über einen längeren Zeitraum sich … Er wird das dann ventiliert haben, oh was mache ich denn nun“ und irgendwie so. Also ich bin jetzt nicht selber, um das nachzugucken, auf solchen Portalen da unterwegs, aber da wird in den Portalen alles ausgewalzt. Und U. war ja mit Computern eben pfiffig, hat das ja studiert und hat mir manchmal so Sachen erklärt, was sie gerade machen und da habe ich nichts verstanden. Da habe ich immer staunend geguckt, der hatte da unheimlich seine Sache drauf und wusste sicher alles, was es da so gibt.

Also würden Sie sagen, dass es Ihren Mann, also wenn man das überhaupt sagen kann, noch unvermittelter getroffen hat als Sie, weil Sie vorhin meinten …

Frau M.: … Ja sicher, weil der eigentlich … Ich habe immer gesagt so, mit dem U. … der isst immer weniger usw. Jeder hat ja immer zu tun und alle waren immer unterwegs und das Wochenende, das war so heilig, also das Mittagessen am Sonntag und dann habe ich gesagt: Jetzt steht er nicht mal mehr zum Sonntagmittag-Essen auf, also so geht das jetzt nicht weiter.

Frau L.: Haben Sie bei U. gedacht, dass der eine Essstörung hatte?

Frau M.: Ja, das war dann offenkundig. Er ist ja immer dünner geworden … wobei … wenn man ihn jeden Tag gesehen hat … aber im Nachhinein …

Dann sind Sie mit Ihrem Mann zusammen zu Frau L. …

Frau M.: Mein Mann der hatte eben immer gesagt: Ach, der muss sich ausruhen und er hat Stress. Und wenn ich gesagt habe: Der wird ja aber auch immer dünner, dann muss er mal mehr essen und weniger rauchen und wenn du nicht schlafen kannst, ich hab mal ein paar Faustan-Tabletten mitgebracht. Das war so das Ding, das war sein Beitrag eben. Wo dann eben auch andere Gesprächsinhalte gewesen sind, also wo mein Sohn und ich uns unterhalten haben, wo ich dann gesagt habe: Das kann man jetzt nicht mehr durch Erzählen und Zuwendung irgendwie kompensieren, das hat mein Mann eigentlich wenig verstanden. Das will man wahrscheinlich auch nicht wahrhaben. Weil ich mich ja auch mehr mit dem U. … wir hatten bisschen einen intensiveren Draht, er hat mir vielleicht mehr Sachen erzählt, als wie er A. erzählt hätte. Und deshalb hatte mein Mann weniger Zugang auf der einen Seite und wollte das wahrscheinlich auch nicht wahrhaben.

Würden Sie dann sagen, dass Sie den Tod Ihres Sohnes eigentlich mehr für sich alleine verarbeitet haben oder eher zusammen mit Ihrem Mann?

Frau M.: Ja teils, teils. Also wenn wir auf den Friedhof gehen, am Anfang sind wir immer zusammen gegangen, aber das machen wir gar nicht mehr, schon lange nicht mehr, weil jeder hat jetzt so seine Aufgaben. Aber ich habe dann noch, wir haben hier ja so Bäume und die Bäume habe ich immer gepflegt … Da ist ja dann noch mein Vater eine Woche später gestorben, das kam auch noch so alles zusammen und … jeder hat da so einen Baum, die sind an unterschiedlichen Stellen …

Das heißt, Sie haben für Ihren Sohn und für Ihren Vater einen Baum gepflanzt?

Frau M.: Jaja, also den von U. haben wir ja zusammen, von der Schule und den Studienkollegen usw., die haben so Geldspenden gegeben und dann kam davon dieser Baum. Und der von meinem Papa, also ich hab noch drei Geschwister, das haben wir dann gemacht.

Ja und dann war unmittelbar daneben so ein anderer Baum von jemandem anderen und der sah immer so desolat aus, weil da nie einer hingegangen ist und dann habe ich immer angefangen, den einen Baum daneben bei meinem Papa und beim U. … da habe ich immer die Baumscheibe gehackt und so Sachen gemacht, da stand der A. immer so daneben und mhmhmhmhm … das hat mich dann immer verrückt gemacht und dann habe ich einmal gesagt: Du kannst ja schon mal gehen, ich mache das mal, ich komme dann hinterher. Und dann … Irgendwie hat sich das dann so ergeben, dass jeder für sich geht.

Wie ist denn Ihre Zusammenarbeit dann weiter vonstatten gegangen?

Frau L.: Ja, ich habe ja dann auch meine Arbeitsstelle gewechselt … Und dann gab es so zehn Patienten, die sich entschlossen haben, weiter zu mir in die neue Klinik zu kommen. Ja wir haben uns dann so vereinbart – das war dann auch mit Ihrer Arbeitsstelle so eine Sache, dass Sie eine Zeit lang weiter weg waren, sodass wir dann weit entferntere Termine vereinbart haben. Und so haben wir das eigentlich in solchen unterschiedlichen Abständen seit der Zeit weitergeführt. Manchmal sehen wir uns zwei Mal im Jahr, manchmal drei oder vier Mal, das ist unterschiedlich. Manchmal bekomme ich eine Postkarte, manchmal schreibe ich dann einen Brief, wie jetzt zu der Frage mit dem Gespräch heute. Ja so eigentlich … Das war schon vom Anfang an eher so eine nervenärztlich-psychiatrisch-psychotherapeutische Unterstützung und also in meinem Bild ist es nach dem Tod ihres Sohnes das noch mehr geworden und zwar nicht im Sinne so einer abgegrenzten Psychotherapie und irgendwann ist gut, sondern eher nach dem Motto: Ich bin da und wenn Sie mich brauchen, äußern Sie sich. Das war so die Absprache und das haben wir auch unter den veränderten Bedingungen die ganze Zeit über durchgehalten. Und das ist, was wir vereinbart haben, dass ich gesagt habe: Komme was da wolle, dafür werde ich irgendwie versuchen eine Lösung zu finden. Weil ich glaube, das haben Sie ja vorhin angedeutet, ich glaube es ist in der Tat schwierig – also wenn Sie es gerne tun wollen, wäre es was anderes – aber ich glaube, wenn Sie es nicht tun wollen, ist es schwierig mit der Geschichte zu jemand anderem zu gehen – bestimmte Dinge müssen wir natürlich nicht mehr hinterfragen – und ich glaube, Sie hätten mit einem Kollegen, selbst wenn man da jetzt einen Brief schreiben würde, einen Kollegen oder einer Kollegin, wenn Sie jetzt woanders hingehen würden, einfach noch mal eine gewisse Zeit was zu tun, um da sich wieder anzudocken.

So als Außenstehende, wenn ich Ihre persönliche Geschichte Frau M. und dann die Geschichte von Ihnen beiden als therapeutische Beziehung so höre, denke ich mir, es hätte ja auch passieren können, dass Sie nach dem Tod Ihres Sohnes den Kontakt abbrechen. Hätte ja theoretisch auch passieren können, ja? (zu Frau M.) Also immerhin haben Sie ihn aufgefordert dahin zu gehen, das hat er auch ein paar Mal gemacht und ich frag jetzt mal frei heraus: Haben Sie Frau L. mal Vorwürfe gemacht? Also, dass Sie gesagt haben, da ist was übersehen worden … Ist es denn nicht verwunderlich, dass das so gut weitergegangen ist mit Ihnen beiden?

Frau M.: Also nee, … Vorwürfe kann man da im Grunde nicht machen, weil das ja für uns genau so unerwartet gewesen ist. Also ich habe schon auf der einen Seite gesagt: Er muss in eine Behandlung, das fällt aus dem normalen Rahmen. Dann ist mir schon klar, dass man im Grunde eben nicht in jemanden reingucken kann. Mein Mann, der war da so ein bisschen anders zunächst, der hat gesagt: Er war in einer Behandlung und jetzt ist das so passiert, also war die Behandlung verkehrt. Und dann habe ich gesagt: Ej, pass mal auf, du warst auch auf der Arztschule, so wie ich. Sicher sind wir in einem anderen Fachgebiet und dann ist man eben weniger vertraut mit den Dingen, aber dein Beitrag war immer nur: Der muss mehr essen, der muss mehr schlafen und wenn es mit dem Schlafen nicht geht, hier bitte, da ist eine Faustan-Tablette. Was U. ja auch manchmal tat, U. war ja folgsam in gewissen Dingen. Das hat er dann auch gemacht, aber das hat dann eben trotzdem nicht geholfen. Und dann habe ich gesagt: Dann fass dich mal an deine eigene Nase und da ist das dann abgeflaut, die Idee …

Was würden Sie denn selbst sagen, welche Stärken Sie haben … Also wenn ich mir so vorstelle, ganz am Anfang von unserem Gespräch, also der Anlass Ihrer Begegnung oder der Behandlung … Ich weiß jetzt gar nicht, wie Sie das selbst nennen …

Frau M.: Ich sage immer: Ich gehe dort ab und zu zu Besuch, ich bringe ja auch immer Blumen mit.

Okay. Ja, das ist ja vielleicht schon eine indirekte Antwort auf meine Frage, welche Stärken Sie haben, dass Sie das alles gemeistert haben so weit. Was würden Sie denn selbst sagen?

Frau M.: Das ich jetzt noch hier sitze, meinen Sie?

Ja. Sich sogar bereit erklären hier an diesem Gespräch mitzumachen und auch mit Energie dabei sind.

Frau M.: Also ich habe so Freundinnen und da hatte ich auch immer viel von U. erzählt, weil wir eben ein sehr inniges Verhältnis hatten und wo das dann passiert war, da haben die das auch so verstanden, dass das ganz schlimm ist, weil die mich eben kennen. Und ich hatte mich ja beruflich verändert und hatte gerade da angefangen, also am 1. März oder so und am 20. April war das Ereignis, also das waren da gerade sechs Wochen und ich war dort gerade dabei, mich so einzufinden. Irgendwie ist das sicher so eine Art Abspaltung und das war eine Ablenkung, wenn ich das dort nicht gehabt hätte … Ich dachte, ich muss da jetzt durch und habe mich dadurch einfach abgelenkt so über den Tag eben.

Also Ihre Fähigkeit, sich auf andere Dinge zu konzentrieren?

Frau M.: Ja, das ist so eine Überlebensstrategie, vielleicht.

Frau L., Sie möchte ich auch gern fragen, was Sie denken, was Frau M.s Stärken sind?

Frau L.: Es gibt so eine Durchhaltekraft. Da muss ich jetzt durch und ich muss das jetzt irgendwie ertragen und ich muss da jetzt irgendwie klarkommen, auch im Beruf: „Ich mach das jetzt einfach so und dann tue ich das und dann denke ich da jetzt nicht groß darüber nach und dann mache ich das.“ Das ist glaube ich auch an manchen Stellen wirklich hilfreich gewesen.

Frau M.: Das ist Trotz und Stolz und Sturheit, ja. Das ist so ein Mechanismus, dass man manche Dinge wegschiebt, weil dann habe ich zu tun, dann füllt das mich aus und wenn das rum ist, dann bin ich müde und lege mich hin und dann mache ich nicht mehr viel und dann hat man natürlich eine Distanz zu den anderen Dingen.

Gibt es denn von Ihrer Seite noch etwas, was Sie gerne sagen würden? Irgendetwas, was Ihnen noch wichtig wäre?

Frau M.: Es ist so, ich gehe jetzt seltener zum Friedhof. Am Anfang hatte ich deshalb ein schlechtes Gewissen und jetzt ist es eben, dass ich sage: Im Grunde ist das nicht der Platz, ich habe den U. mehr bei mir mit. Also wenn man sagt, das Kind kommt auf die Welt, dann setzt man das ja in die Welt und ich hab es jetzt wieder zurückgenommen … Das ist immer dabei. Das ist vielleicht auch nur so eine Konstruktion, aber so kann ich das aushalten … Weil normalerweise kann man das ja nicht aushalten und dann ist da ja immer dieses Problem: wenn jetzt eine organische Erkrankung gewesen wäre, das ist vom Ergebnis genau so, aber das ist viel weniger belastend, weil man sich natürlich immer fragt, was man halt anders hätte tun können oder inwieweit man dann eben mit dran schuld ist … weil man ja immer sagt, bei diesen Sachen ist da eine Anlage und eine Umwelt; wenn es organische Erkrankungen sind, ist das ja nicht der Punkt. Und das ist eben schwierig.

Frau L.: Also ich glaube, das eint uns, ja? Das eint uns, diese grundsätzliche Frage: Hätte man was anders machen können? Das ist für jemanden, der Behandler ist, immer noch etwas anderes, als für denjenigen der Angehöriger ist, aber so dieses grundsätzliche Thema, man verliert als Arzt oder als Psychotherapeut einen Patienten in der Behandlung und man glaubt, dass man das irgendwann vergisst. Das glaube ich nicht, also das glaube ich nicht. Die Menschen, die man in der Behandlung verliert oder die versterben im Rahmen der Behandlung, die kann man relativ genau noch zuordnen, die Geschichten sind bekannt. Das ist sicherlich auf einer anderen Ebene, als wie für jemand, der persönlich jemanden verliert, aber das grundsätzliche Thema: Hätte man was anderes machen können? Was hätte ich tun können? Was hätte jemand anders tun können? Hätte ich jemanden fragen können? Hätte ich jemanden anderen einbeziehen können? Das glaube ich, ist eine Sache, die mehr oder minder bleibt.

Wann ist denn Ihr nächster Besuch bei Frau W.?

Frau M.: Jetzt habe ich erst mal ein Rezept. Das dauert dann erst mal wieder.

Frau L.: Der Besuch ist immer dann, wenn Frau M. sagt, sie möchte kommen.

Haben Sie vielen Dank, Frau M., und Ihnen auch, Frau L., Dankeschön.

1 Dem Interview liegt eine doppelte Einverständniserklärung Psychiaterin/Patientin zugrunde. Pseudonyme: Frau L.: Psychiaterin; Frau M.: Klientin; U.: Sohn; A.: Ehemann der Klientin.

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