PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(2): 79-80
DOI: 10.1055/s-0032-1304984
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das besondere Buch

Im Netz verlorenHans  Lieb
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Publication Date:
13 June 2012 (online)

[Petra Schuhler, Monika Vogelgesang]: Abschalten statt Abtriften. Wege aus dem krankhaften Gebrauch von Computer und Internet. Weinheim: Beltz, 2011.

Die Autorinnen Petra Schuhler und Monika Vogelgesang arbeiten in einer für dieses Krankheitsbild renommierten Klinik. Man merkt dem Buch an, dass die darin wiedergegebenen Materialien das Ergebnis über etliche Jahre in der Klinik gesammelter Erfahrungen sind.

Es ist in seiner didaktischen und inhaltlichen Gesamtkonzeption mit einem Schulbuch zu vergleichen, das inhaltsreiches Begleitmaterial für den Unterricht ist. Damit ist dessen produktives Spektrum ebenso markiert wie dessen Grenzen. Das machen die Autorinnen im Cover-Text selbst klar: Es handelt sich um ein Therapiebegleitbuch für Patienten in – hier: stationärer – Therapie. Es eignet sich weniger dafür, Grundlegenderes zu erfahren über die Rolle des Internets für heutiges menschliches Leben, über das Verhältnis darin enthaltener Chancen und Probleme oder dafür, auf solchermaßen fundierter Grundlage eine Entscheidung zu treffen, ob der PC- oder Internetuser generell und wenn dann welcher Art professioneller Hilfe bedarf.

Nach einer Einführung in die Thematik werden in zehn Kapiteln Bereiche behandelt, die Patienten bearbeiten sollten, um ein befriedigendes Leben ohne permanenten PC-Konsum zu führen. Dabei werden alle aus Sicht der Suchttherapie relevanten Lebensbereiche beleuchtet: Erkenntnis und Eingeständnis „der Sucht“, Unterscheidung zwischen süchtigem Wollen und gesundem Brauchen, Unterschied von Gefühl und Verstand, Kommunikation und Interaktion im Allgemeinen und deren Belastung durch extremen PC-Konsum im Besonderen; Selbstblockaden versus Selbstmotivation; Stressbewältigung; Genießen versus süchtiges Konsumieren sowie familiäre Faktoren bei Entstehung und Überwindung des Problems. Am Ende erhält der Leser eine lange Liste ambulanter Beratungsstellen für dieses Störungsbild und eine kleinere Liste von Kliniken (aus der Klinikgruppe, zu der die der Autorinnen gehört).

Zu jedem dieser Bereiche wird umfangreiches Material zur Selbstanalyse bereitgestellt und eine Fülle von Tipps und Anregungen für Veränderungsschritte angeboten. Besonders positiv: Alle Arbeitsblätter können auch im Internet heruntergeladen werden. Mit ihnen können Patienten jeweils selbst einschätzen, ob ihre „Welt im Netz“ sich von ihrem „Leben in der Realität“ so unterscheidet, dass das als problematisch zu bezeichnen und wie das zu verändern ist. Für diesbezügliche Laien hilfreich ist das wiederholt in die Texte eingestreute Vademecum mit Wissenswertem über die Welt des Internets mit dessen häufigsten Spielen und deren Nomenklaturen.

Um sich als Leser in Problematik und Therapie dieser „Suchtpatienten“ einzufühlen, helfen zahlreiche Fallbeispiele. Im Grundkonzept übertragen die Autorinnen das Therapierationale der klassischen stoffbezogenen Suchttherapie konsistent auf den von ihnen sogenannten „krankhaften Gebrauch von Computer und Internet“. Was bei Alkoholikern die Entscheidung zur Abstinenz als Vorbedingung für die Therapie ist, ist hier die „Verzichtserklärung auf spezielle PC-Internet-Aktivitäten für die Dauer der psychotherapeutischen Behandlung“ (S. 23). Auch im Duktus, in dem der Text den Patienten anspricht, erkennt man den suchttherapeutischen Kontext wieder: Wie das Trinken bei Alkoholikern wird extremeres Verweilen im Netz ausschließlich negativ gesehen. Die Patienten-Anrede ist suchttherapietypisch meistens rezepturförmig imperativ („Machen Sie …“, „Fragen Sie sich …“). Wie Schüler durch die Lektüre eines Schulbuches allein nicht lernen, den Stoff zu beherrschen, kann das Buch vom lesenden Patienten allein kaum fruchtbringend durchgearbeitet und umgesetzt werden. Deshalb verweisen die Autorinnen die lesenden Patienten zu Recht immer wieder darauf, durch die Lektüre erworbene Erkenntnisse in ihrer Therapie zu besprechen.

Vor diesem konzeptuellen Hintergrund ist ebenso klar, was das Buch bietet und worauf es keine Antwort gibt. Es behandelt nicht die Frage, inwiefern das Selbst der Moderne durch das Leben im Netz mit konstituiert wird und welche Rolle „Netzbeziehungen“ und „Netzspiele“ dabei haben. Es begnügt sich mit der für diese Form der Suchttherapie typischen Leitunterscheidung: „Im Netz sein = negativ“, „In der Realität sein = positiv“.

Dem Buch unterliegen somit Vorselektionen, die man teilen muss, will man es als Therapeut oder Patient für sich nutzen. Dazu gehören die Unterscheidungen zwischen „normalem“ sowie „schädlichem“ und „krankhaftem“ PC-Gebrauch und zwischen „PC-Selbst“ und „Real-Selbst“. Es muss sich auch nicht mit den Paradoxien beschäftigen, die sich aus diesen Leitunterscheidungen ergeben wie z. B. mit der Frage, wie es zu bewerten ist, wenn ein Patient im Netz ehrlicher über sich berichtet als in der Realität. Das pragmatisch-praktisch ausgerichtete Buch wird nicht dem Anspruch gerecht, eine Erklärung des Phänomens „PC-Sucht“ vorzulegen. Es hat ihn auch nicht. Und die Autorinnen müssen nicht reflektieren, was sie mit ihrem bedeutungsschwangeren Konzept, dem exzessiven PC- und Internetgebrauch liege eine „seelische Erkrankung“ zugrunde, alles mittransportieren. Wer von anderen Basisannahmen ausgeht (etwa einer systemtheoretischen), könnte sich an solchen Aspekten des Buches reiben oder andere – z. B. eine tiefergehende Ressourcenorientierung – vermissen. Die große Fülle an angebotenen Interventionen, Veränderungsvorschlägen, Lebensbewältigungs-Zitaten könnte auf manche Leser etwas erschlagend wirken.

Zusammenfassend gibt das Buch Einblick in den prallen Werkzeugkoffer der Autorinnen und ihrer Klinik für diese Klientel. Es ist sehr zu empfehlen für Patienten, die sich in einer Therapie befinden, die diesem Suchttherapie-Ansatz folgt. Es ist ein wertvoller Fundus für Therapeuten, die konkretes, praktikables und patiententaugliches Arbeitsmaterial für Problemerfassung/Reflexion und Veränderung für Patienten mit PC- und Internetgebrauchs-Problemen suchen und die gerne mit hier breit zur Verfügung gestellten Arbeitsblättern arbeiten.

Es ist weniger zu empfehlen für Leser, die einen theoriegeleiteten Zugang zum postmodernen Verhältnis von Person und Netz und erst von da aus zum problematischen Gebrauch von PC/Internet suchen oder deren therapeutisches Zuhause systemtheoretisch-lösungsorientiert ist.

Literatur

  • 1 Schuhler P, Vogelgesang M. Abschalten statt Abtriften. Wege aus dem krankhaften Gebrauch von Computer und Internet.. Weinheim: Beltz; 2011

Dr. Hans Lieb

Luitpoldstraße 3–9

67480 Edenkoben

Email: hans.lieb@if-weinheim.de

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