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DOI: 10.1055/s-0032-1304986
Wie sehen Betroffene Maßnahmen der Eingliederung?
Eine Nachbetrachtung zum Heft „Anfälle“ (PiD 4 / 2011) zum Thema (Auto-)MobilitätPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
13. Juni 2012 (online)

Herr C. war als Betroffener mit einem Interview im letzten PiD-Heft vertreten. Zwischenzeitlich lag ihm nun das Gesamtheft vor. Es ergab sich ein Briefwechsel, den wir nachfolgend abdrucken. Herr C. bezieht sich auch auf einen tragischen Unfall, der sich im Jahr 2011 in Hamburg ereignete. Einzelheiten hierzu sind ergänzend wiedergegeben (siehe Box 1 ).
Hallo Herr Brünger,
zunächst mal vielen Dank dafür, dass Sie mir ein Rezensionsexemplar überlassen haben. Sie fragen nach meinem Urteil. Das ist natürlich nicht ganz einfach, denn es handelt sich um eine Fachzeitschrift für Fachpublikum und ich bin interessierter Laie und einer von denen, über den die Fachleute reden. Zu dem Artikel von Frau Coban, zu dem Sie mein Urteil besonders interessiert:
Ich bin gespalten. Einerseits habe ich höchsten Respekt vor dem profunden Wissen von Frau Coban. Andererseits beschleicht mich ein gewisses Unbehagen beim Thema „Mobilität“ und bei dem Bemühen der Frau Coban, den Epileptikern bei der maximalen Anpassung an den Mobilitätswahn dieser Gesellschaft zu helfen. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich keinen Führerschein. Das war irgendwann eine ganz bewusste Entscheidung. Und ich bin erst letztes Jahr in dieser Entscheidung nachdrücklich bestätigt worden. Wie Sie vielleicht gelesen haben, wurde Ende 2010 der Sexualwissenschaftler und frühere Frankfurter SDS’ler Günther Amendt in Hamburg auf dem Gehsteig überfahren. Der Fahrer hat Epilepsie. Nun wird darüber spekuliert, ob er vielleicht einen Anfall hatte. Ich halte diese Spekulation für müßig, denn auch ohne Anfall sind Epileptiker oft langsamer im Reagieren und können entgleisen.
Es hat in den letzten 20 bis 30 Jahren eine Lockerung der Regeln gegeben, die teilweise auch damit begründet wird, dass man Diskriminierung abbauen will. Für mich liegt aber die eigentliche Diskriminierung darin, dass ich als Epileptiker nicht anders sein darf. Dass ich nur mit Auto ein ganzer Mensch und vor allem Mann sein soll und dass ich deswegen daran gehindert werde, meine Mobilität so zu gestalten, wie es mir entspricht. Ich bin übrigens beruflich durchaus zur Mobilität gezwungen und sitze deswegen im Moment gerade in einem Zug, der mich in die Schweiz bringt.
Ich habe mein Leben trotz gesellschaftlichen Drucks mittlerweile so eingerichtet, dass ich weder Auto noch Führerschein brauche. Aber ich hielte es für wichtig, dass es Menschen mit Epilepsie in dieser Gesellschaft erlaubt ist, anders zu sein, ohne dass sie deswegen fürchten müssen, aus der Gesellschaft herauszufallen. Lassen Sie mich es so sagen: Die Zuschreibungen der Ärzte im Rahmen der Theorie der epileptischen Wesensänderung waren fast immer kränkend und diskriminierend (man denke nur beispielhaft an Krafft-Ebbing und seine Theorie von der „sexuellen Perversion“ Epilepsie). Sie waren es vor allem deswegen, weil bei ihnen die Abweichung vom Normalen immer auf einen Defekt hinauslief. Sie hatten keinen wirklichen Begriff davon, dass „normal“ selbst eine problematische Zuschreibung ist und ihnen fehlte weitgehend das Verständnis dafür, dass Abweichungen positiv und negativ sein können und dass sie meist eine Mischung aus beidem sind.
Jetzt hat man die „epileptische Wesensänderung“ aus dem Diskurs verabschiedet. Das ist insofern richtig, als es mit Sicherheit falsch ist, wenn man dem Anfallsgeschehen selbst die Kraft zur Wesensveränderung zuschreibt. Aber es wird falsch, wenn man unser anderes Verhalten ausschließlich oder hauptsächlich auf Tabletten, Erziehungsfehler der Eltern (Überbesorgnis) oder soziale Diskriminierung zurückführt.
Sie hatten vor in ihrem Heft auf die Parallelität von Erdbeben und Anfall einzugehen und haben das wegen Japan und den Folgen unterlassen. Nun wissen Sie so gut wie ich, dass sich bei jedem Erdbeben Spannungen entladen, die sich über längere Zeiträume aufgebaut haben. Ursache für diese Spannungen sind die Verschiebungen der Platten gegeneinander. Mit dieser Analogie stellt sich doch automatisch die Frage: Welche Art von Tektonik in uns verursacht Anfälle? Als Computermensch ist mein Handwerkszeug die Logik. Und jede Art von Logik basiert auf einem fundamentalen Satz, dem Satz der Identität: A = A. Bereits Hegel hat in der „Wissenschaft der Logik“ über diesen Satz gespottet und gemeint, er sei so wahr wie sein Gegenteil. Allerdings funktioniert Logik nur, z. B. das Schließen, wenn A, B und C bleiben, was sie sind. Andernfalls kann man aus der Relation A zu B und B zu C unmöglich eine Relation A zu C folgern. Sobald man allerdings die Abstraktion verlässt und an die Stelle von A = A z. B. „Ich bin Ich“ setzt, weiß man, warum Hegels Spott gerechtfertigt ist. Dieses Ich ist nämlich ein ziemlich komplexes Gebilde und die Herstellung und Bewahrung seiner Identität harte Arbeit, die jeden Tag von Neuem zu leisten ist. Und diese Arbeit kann auch nur dann gelingen, wenn man sich in der Veränderung erhält. Wenn man sich jeden Tag ändert und trotzdem man selber bleibt. Wobei dies sofort die Frage aufwirft, was denn dieses „man selber“, dieser Identitätskern sein soll. Ich denke, dass Epileptiker mit dieser Frage größere Schwierigkeiten haben als andere. Das wäre dann die tiefere Ursache der tektonischen Spannungen.
Andererseits: Wenn wir nicht alle Schwierigkeiten mit so was Empfindlichem, leicht Zerstörbarem wie unserer Identität hätten, wären ganze Berufszweige wie Psychotherapeuten oder Pfarrer überflüssig und arbeitslos. Das heißt, es bleibt die Frage, worin die spezifischen Identitätsprobleme der Epileptiker bestehen. Ein wesentlicher Punkt unserer Identität ist die Frage: Wo stehen wir in unserem Verhältnis zu anderen. Wir sortieren uns in Hierarchien. Da gibt es soziale und wirtschaftliche Hierarchien, die meist davon bestimmt sind, wo wir geboren werden und welchen Rang uns unsere Eltern vererben. Entscheidender sind aber letzten Endes wir selbst. Es gibt deswegen neben und in Konkurrenz zu den sozialen Hierarchien etwas was ich als „natürliche“ Hierarchie bezeichnen möchte. Eine Rangordnung, die automatisch in einer Gruppe entsteht, weil wir uns nach unseren Fähigkeiten und danach, welche Fähigkeit wir anderen zuschreiben, sortieren. Eine Rangordnung, die älter ist als jede gesellschaftliche Ungleichheit und die sich gerade in einer gleichen Gesellschaft am konsequentesten etablieren kann. Schwierig wird es nun für jemanden, der über große Fähigkeiten und Defizite gleichzeitig verfügt. Wo ist sein ihm zustehender Platz? Das scheint mir die Schlüsselfrage für die Identitätsprobleme, die viele Epileptiker haben, zu sein, gewissermaßen die im Untergrund vor sich gehende Plattenverschiebung, die nicht ausgleichbare Spannung.
Ich bin nun sehr weit von einer konkreten Kritik an Ihrer Zeitschrift abgekommen. Ihr Heft versteht sich sehr deutlich und nachvollziehbar als Handreichung für den Psychotherapeuten zum Thema Epilepsie und dissoziative Anfälle. Was ich vermisse, ist wenigstens ein Artikel, der versucht, sich der beiden Anfallsformen theoretisch, und zwar aus neurologischer und psychologischer Sicht, zu nähern. Natürlich geht man da auf dünnem Eis, wie man z. B. an Freuds Artikel über den Epileptiker Dostojewskij sehen kann, bei dem der große Meister meiner Meinung nach ziemlich abstürzt, aber das Risiko einmal abzustürzen, hätten Sie sich nach vielen praxisrelevanten Artikeln ruhig erlauben dürfen.
Es hätte die insgesamt gute Mischung abgerundet.
Viele Grüße
C.
Sehr geehrter Herr C.,
haben Sie herzlichen Dank für Ihre sehr ausführliche Kommentierung des Heftes. Unser Bezugspunkt ist ja das anonymisierte Interview, welches Sie mir dankenswerterweise für unser Anfälle-Heft der PiD gegeben haben.
Im Epilepsiemuseum in Kork berichtete mir Herr Dr. Schneble über das Gespräch mit einer englischen Künstlerin, deren Bilder auch die Auseinandersetzung mit ihrer Epilepsie thematisieren. Er fragte sie: „As you suffer from epilepsy…“, worauf sie ihn prompt unterbrach: „I don’t suffer from it, I have an epilepsy!“ (So meine Erinnerung an das Gespräch mit Herrn Schneble vor einem halben Jahr).
Sie gehen noch einen Schritt weiter und sagen „ich bin Epileptiker“. Das finde ich interessant, da ich mich als jemand in der Situation des Behandlers (sowohl bei Menschen mit Epilepsie als auch bei Menschen mit psychischen Problemen – wenn Sie so wollen, auch bei Menschen, mit beiden Problemkreisen) dazu anhalte, einen Menschen nicht über seine Krankheit zu definieren. Ihre Ausführungen über die Frage der menschlichen Identität habe ich vor diesem Hintergrund mit Interesse gelesen.
Nun ist ja seit unserem Interview auch klar geworden, dass Sie sich sehr auf Ihre Epilepsie beziehen, dies vor dem Hintergrund, dass Anfälle ja glücklicherweise schon lange nicht mehr aufgetreten sind und Sie auch auf ein Medikament verzichten können.
Es könnte also sein, dass die Epileptologen, die auf ihre WHO-Richtlinien usw. achten, auf die Idee kämen, Ihnen diese „Identität“ abzusprechen: Mir ist nicht klar, ob Ihnen hierbei etwas verloren ginge („Ich bin kein Epileptiker mehr“) oder ob Sie dabei gewinnen könnten (Gesundheit und „Normalität“ in dem kritischen Sinne, den ich Ihren Zeilen entnehme).
Kurzum, ich fand Ihre Anmerkungen und Weiterführungen sehr stimulierend und bedanke mich für die kritische Auseinandersetzung!
Es ist richtig, wir haben uns nicht an die Thematisierung der neurobiologischen Grundlagen von dissoziativen und epileptischen Anfällen gemacht, schon gar nicht in einer simplifizierenden „tabellarischen Gegenüberstellung“. Nehmen Sie dies als Zeichen einer kritischen Selbsteinschätzung und nicht als Hinweis auf mangelnden Mut. Die Erkenntnisse in diesem Bereich sind vielleicht auch bei anderen im Fach, die mutiger als wir sind, noch bescheiden.
Ich verbleibe mit Dank und allen guten Wünschen – bis zu unserer nächsten Begegnung!
Ihr Michael Brünger
Box 1 Tragischer Autounfall mit vier Todesopfern in Hamburg
Am 12. März 2011 wurden in Hamburg-Eppendorf vier Menschen bei einem Verkehrsunfall getötet: Neben dem Ehepaar Dietmar und Sibylle Mues starben der Sozialforscher Günter Amendt und die Künstlerin Angela Kurrer. Drei weitere Menschen wurden verletzt.
Verursacht wurde der Unfall durch einen PKW-Fahrer, der mit hohem Tempo bei Rot über eine belebte Kreuzung schoss und in eine Gruppe von Fußgängern und Radfahrern raste.
Am Steuer des Wagens saß ein 39-jähriger Mann, der nach bisherigen Erkenntnissen an Epilepsie leidet und zum Unfallzeitpunkt einen Anfall erlitten hatte. Es sollen sich durch ihn bereits zwei anfallsbedingte Unfälle ereignet haben. Im Frühjahr 2012 wurde ein Gerichtsverfahren eröffnet.
Der tragische Unfall wirft komplizierte juristische Fragen auf: Schuldunfähigkeit besteht wohl für den Zeitpunkt des Anfalls und damit für den Unfallzeitpunkt. Vorgeworfen wird dem Unfallverursacher von der Staatsanwaltschaft aber, dass er sich – ohne anfallsfrei zu sein – ans Steuer gesetzt hatte. Der Ausgang des Verfahrens bleibt abzuwarten.
Literatur
-
1 „Epilepsie und Führerschein“. http://www.mara.de/service/downloads/epilepsie.html
- 2 Wann ist der Führerschein gefährdet?. INFO Neurologie & Psychiatrie. 2012; 14 16
Dr. med. Michael Brünger
Pfalzinstitut
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Weinstraße 100
76889 Klingenmünster
eMail: michael.bruenger@pfalzklinikum.de