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DOI: 10.1055/s-0032-1305067
Forschung in den Gesundheitsfachberufen
KernaussagenPublication History
15 March 2012
16 March 2012
Publication Date:
06 June 2012 (online)
Die Beantwortung des weit reichenden Anforderungswandels in der Gesundheits- und Sozialversorgung erfordert große Anstrengungen aller gesellschaftlichen Gruppen. Dabei ist es dringend angezeigt, die genuinen und spezifischen Potenziale der Gesundheitsfachberufe stärker als bislang für die Problembewältigung zu nutzen.
Die Gesundheitssysteme sind vor wachsende Herausforderungen gestellt. Ursächlich hierfür ist zum einen die sich verändernde Altersstruktur der Bevölkerung mit einer wachsenden Zahl alter und hochaltriger Menschen bei gleichzeitig niedriger Geburtenrate. Zum anderen gehen die Zunahme von chronischen Erkrankungen und Multimorbidität mit neuen und veränderten Anforderungen einher. Schließlich erfordern auch der rasante Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnissen, der Einzug von Technik in nahezu alle Lebensbereiche, neue Rollenerwartungen, Leitbilder und Werteverschiebungen sowie nicht zuletzt wirtschaftliche Gründe eine systematische Anpassung der Gesundheits- und Sozialversorgung. Allein mit den etablierten, vorwiegend störungs- oder krankheitsorientierten Modellen und den darauf basierenden biomedizinischen Zugriffsweisen lässt sich diesen wachsenden und gewandelten Herausforderungen nicht angemessen begegnen. Eine erfolgreiche und qualitativ hochwertige Gesundheits- und Sozialversorgung ist zugleich auf die patientennahen Leistungen von Pflegenden, Hebammen oder Entbindungspflegern, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden oder Sprachtherapeuten angewiesen. Bereits heute leisten diese und andere Gesundheitsfachberufe wichtige Beiträge für die Gesundheits- und Sozialversorgung. Die bedarfsgerechte, gleichermaßen effektive wie effiziente Bewältigung des zuvor skizzierten Anforderungswandels wird künftig eine intensivere und umfänglichere Nutzung der genuinen und spezifischen Leistungsmöglichkeiten der Gesundheitsfachberufe notwendig machen.
Damit die spezifischen Leistungen der Gesundheitsfachberufe als wichtiger Beitrag zur Beantwortung des Anforderungswandels und zur Sicherung der Versorgungsqualität akzeptiert und gewürdigt werden, müssen ihre Interventionen durch wissenschaftliche Reflexion und Forschung abgesichert und evidenzbasiert gestaltet werden.
Viele Interventionen werden von den Gesundheitsfachberufen heute in gutem Vertrauen auf die Alltagspraxis durchgeführt, ohne dass ihre Wirksamkeit unter den gegebenen Bedingungen und für den jeweiligen Anwendungsbereich differenziert und gemessen an wissenschaftlichen Standards überprüft worden wäre. Noch dominieren krankheits- oder störungsorientierte Konzepte und mangelt es im Versorgungsalltag an Patientenorientierung und Patientenpartizipation. Angesichts ihrer vorwissenschaftlichen Qualifizierung bereitet es den Gesundheitsfachberufen Schwierigkeiten, lauter werdenden Forderungen nach rationaler Begründung und insbesondere nach Evidenzbasierung ihrer Interventionen zu begegnen. Erkenntnisse aus der grundlagenorientierten Forschung aufzugreifen und in komplexe, aber anwendbare Behandlungsansätze zu übersetzen sowie die entwickelten Interventionen praktisch umzusetzen, kann unter diesen Bedingungen kaum gelingen. Auch die systematische Untersuchung des Nutzens einzelner Interventionen für den Patienten sowie die abschließende Implementierung in die Routineversorgung, stößt an zuweilen unüberwindbare Hindernisse. Dem abzuhelfen und die Gesundheitsfachberufe in Stand zu setzen, diese wichtigen Forschungsaufgaben anzugehen und zu bewältigen, ist somit von hoher Dringlichkeit
Um den lauter werdenden Forderungen nach Wissenschafts- und Forschungsentwicklung entsprechen zu können, benötigen die Gesundheitsfachberufe belastbare, nachhaltige und wettbewerbsfähige Forschungsstrukturen an Fachhochschulen, Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen.
Forschung in den Gesundheitsfachberufen, die sich erfolgreich im (inter-)nationalen Wettbewerb behaupten soll, ist auf vergleichbare Strukturen und Kapazitäten angewiesen, wie sie für andere forschungsaktive Disziplinen selbstverständlich sind. An den Fachhochschulen, an denen die Gesundheitsfachberufe derzeit überwiegend angesiedelt sind, muss Forschung als ein strategisches Thema der Hochschulleitungen verstanden und entsprechend gestaltet werden. Dies schließt eine stärkere Förderung forschungsstarker Bereiche sowie die Bildung von Forschungsschwerpunkten ein. Die aufgabengerechte räumliche und technische Ausstattung, der Aufbau einer Forschungsadministration, die Möglichkeit der Reduktion von Lehrdeputaten, die Einrichtung von Forschungsprofessuren und forschungsorientierter Masterstudiengänge sowie eine stärkere Kommunikation des eigenen Forschungsprofils nach innen und außen mögen punktuell bereits angestoßen worden sein. In der Fläche aber müssen diese Voraussetzungen erst noch geschaffen werden. Doch auch die deutschen Universitäten dürfen sich einer Öffnung für die Gesundheitsfachberufe nicht länger verschließen. Ohne sie wird nicht nur die Wissenschaftsentwicklung und Disziplinwerdung beeinträchtigt. Auch die wissenschaftliche Nachwuchsförderung stößt ohne derartige Öffnungsprozesse bereits in der Promotionsphase an Grenzen. Klärungsbedürftig ist dabei, ob und wie in der Forschung die strukturelle Koppelung mit den an den Universitäten vertretenen Bezugsdisziplinen – darunter insbesondere auch der Medizin – realisiert und ermöglicht werden kann.
Erfolgreiche Forschung in den Gesundheitsfachberufen erfordert thematische und strategische Allianzen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen sowie hochschulübergreifende (inter)nationale Kooperationen.
Für die Entwicklung von Forschung in den Gesundheitsfachberufen haben thematische und strategische Allianzen mit Versicherungsträgern, Leistungsanbietern und anderen gesellschaftlichen Interessengruppen große Bedeutung. Sie können an der Identifizierung relevanter Forschungsthemen und -aufgaben mitwirken, deren Bearbeitung durch die Eröffnung von Feldzugängen und andere Maßnahmen aktiv unterstützen sowie die Nutzung der erarbeiteten Ergebnisse und deren kritische Reflexion befördern. Regionale, überregionale und internationale Forschungsverbünde könnten dazu beitragen, die Wissenschaftsentwicklung voranzutreiben und die anstehenden Aufgaben der disziplinären und interdisziplinären Gesundheitsforschung effektiv und effizient zu bewältigen. Zudem sind komplementäre Hochschultypen oder auch außeruniversitäre Forschungseinrichtungen zusammenzuführen und in ihren jeweiligen Stärken zu verknüpfen. Es gilt Synergien zwischen den stärker anwendungsorientierten Fachhochschulen mit ihren regionalen Forschungspartnern einerseits und den spezifischen wissenschaftlich-methodischen Kompetenzen an den Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen andererseits herzustellen und zu nutzen. Spezifische Anreizsysteme müssen primär darauf ausgerichtet werden, stabile Forschungskooperationen zwischen Fachhochschulen und Universitäten anzustoßen und zu befördern.
Die forschungsgestutzte Entwicklung, Implementierung und Überprüfung von patientennahen und alltagstauglichen Handlungskonzepten braucht eine nachhaltige Förderung. Die Gesundheitsfachberufe können ihre spezifischen Beiträge nur leisten, wenn ihr Potenzial über Forschungsforderung substanziell unterstutzt wird.
Bislang fehlt es hierzulande weitgehend an tragfähigen Förderstrukturen für von den Gesundheitsfachberufen zu leistende Forschung, weshalb diese zu weiten Teilen auf thematisch unstetige Forschungsaktivitäten in Qualifizierungsphasen (z. B. Promotionsforschung) begrenzt geblieben ist. Um dem zu begegnen, sind in der Forschungsförderung spezifische wie unspezifische Initiativen gefragt. Es gilt die differenzierten Förderangebote öffentlicher Forschungsförderer – der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), des Bundes, der Bundesländer und der EU – für die Beantwortung der Herausforderungen im Bereich der Gesundheitsfachberufe zu öffnen und zu erschließen. Damit die Einwerbung solcher Drittmittel erfolgreich verlaufen kann, ist eine Anschubförderung notwendig. Ihre Funktion wird es sein, Strukturen herauszubilden, Kooperationen aufzubauen und Kenntnisse zu bündeln. Fördermaßnahmen zur patientenorientierten Forschung sowie zur Präventions- und Versorgungsforschung sollten künftig angemessene Anreize setzen, um die Gesundheitsfachberufe zu integrieren und um thematisch einschlägige Forschungskooperationen zwischen Fachhochschulen und Universitäten zu befördern.
Die strukturierte Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist eine notwendige Voraussetzung für den Auf- und Ausbau von Forschung in den Gesundheitsfachberufen. Differenzierte, durchlässige und konsekutive Angebote für die Master-, Promotions- und Postdoc-Phase zu entwickeln und zu implementieren, ist daher unverzichtbar.
Eine mit anderen Ländern vergleichbare differenzierte, durchlässige und konsekutive, an den Anforderungswandel angepasste und an modernen Leitbildern orientierte, leistungs- und zukunftsfähige Ausbildungsstruktur für die Gesundheitsfachberufe. fehlt in Deutschland. Zur akademischen Ausbildung der Gesundheitsfachberufe wurden bisher vor allem Bachelorstudiengänge aufgebaut. Um nicht allein die Nutzung von Forschung zu befördern, sondern auch für deren eigenverantwortliche Durchführung zu qualifizieren, muss aber zugleich auch das Angebot von thematisch einschlägigen und konsekutiven Masterstudiengängen erweitert werden. Zudem bedarf es stabiler Pfade für die wissenschaftliche Nachwuchsförderung in Form von Promotions- und Postdoc-Phasen sowie angemessener Beschäftigungsmöglichkeiten für wissenschaftliche Mitarbeiter. Die Arbeitsgruppe des Gesundheitsforschungsrates (GFR) skizziert im vorliegenden Konzeptpapier erste Überlegungen zur möglichen Umsetzung dieser Forderungen. Der Wissenschaftsrat (WR) erarbeitet derzeit „Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen“, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 verabschiedet und veröffentlicht werden sollen. Hierin sind weitere Informationen zum Stand der Qualifizierungswege für die Gesundheitsfachberufe und umfassende Vorschläge zu deren Weiterentwicklung zu erwarten. Diese werden ausdrücklich die Schnittstellen zu den traditionell akademischen Gesundheitsprofessionen in den Blick nehmen und in Anbetracht des zuvor skizzierten Anforderungswandels nach neuen Wegen in der Qualifizierung aller Gesundheitsfachberufe fragen.
Forschung in den Gesundheitsfachberufen durch geeignete Maßnahmen zu fördern, eröffnet Chancen für eine bedarfsgerechtere, effektivere und effizientere Gesundheits- und Sozialversorgung in Deutschland. Förderlich wären insbesondere:
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ein strukturierter Diskurs mit allen relevanten Disziplinen, Trägern und Wissenschaftsorganisationen (Länder, Wissenschaftsrat, Hochschulrektorenkonferenz [HRK], Gesundheitsforschungsrat [GFR], Bund) zur künftigen hochschulischen Verankerung der Forschung in den Gesundheitsfachberufen;
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die Entwicklung und Implementierung hochschulübergreifender Masterprogramme mit Anschlussfähigkeit zur Promotion;
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die systematische Promotionsförderung durch Erhöhung der Durchlässigkeit zwischen Fachhochschulen und Universitäten sowie durch den Ausbau einschlägiger Förderinitiativen (z. B. des BMBF-Programm Forschungskollegs, DFG-Graduiertenkollegs);
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die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch spezifische Nachwuchsakademien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und vergleichbare Initiativen;
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die Förderung einer Meilensteinplanung für die Forschungsentwicklung sowie der Entwicklung einer Forschungsagenda durch die jeweiligen Disziplinen;
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die Öffnung einschlägiger Forschungsförderinitiativen und Ausschreibungen für die Gesundheitsfachberufe sowie die Integration von ausgewiesenen Vertretern der verschiedenen Disziplinen in die Planung und Begutachtung von Förderprogrammen.