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DOI: 10.1055/s-0032-1310388
Sich auf das Unselbstverständliche verständigen – Schizophrenie als Kommunikationsproblem
Publication History
Publication Date:
02 April 2012 (online)
"Die Organisation des Bewusstseins – Strategien der Typisierung ,normaler‘ und schizophrener Weltauffassung" scheint ein abstrakter Titel für ein sehr konkretes und gewichtiges Thema psychiatrischer Praxis. Denn der Autor Michael Titze, der bislang besonders durch Studien über die Rolle des Humors in der Psychotherapie in Erscheinung trat [ 1 ], beschäftigt sich in diesem Buch mit der Frage, wie die scheinbar unverständliche subjektive Erfahrungsweise von Menschen mit Schizophrenie in einem phänomenologisch-deskriptiven Sinne konzeptualisiert werden könnte. Michael Titzes Arbeit verdient schon deshalb Gehör, weil sie Wolfgang Blankenburgs immer noch originelle Hypothese vom "Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit" [ 2 ] als strukturellem Kern der subjektiven und ggf. auch unterschiedlichen Erfahrung von Schizophrenie zu neuer Geltung bringt. Normalität wird hiernach nicht als inhaltlich festgelegte (kulturelle oder biologische) Norm oder Funktionsweise begriffen, sondern vielmehr als die in einer jeder solchen Norm immer schon vorausgesetzte, intersubjektive Übereinkunft, die Dinge auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen oder eben zu "typisieren". Auf diese Übereinkunft, die die Grundlage unserer Kommunikation darstellt, versteht sich jedoch ein Mensch mit Schizophrenie ganz grundlegend nicht mehr. So wird die Schizophrenie (als Allgemeinbegriff) in dieser phänomenologischen Betrachtungsweise aus dem Bereich des kategorisch Unverständlichen und nur biologisch Erklärbaren (wie es Jaspers noch bezüglich des Wahns deklarierte [ 3 ]) enthoben und zum Verständigungsproblem bzw. therapeutisch zur Verständigungsaufgabe. Diesen Gedanken erläutert Michael Titze ausführlich anhand einer Vielzahl von Theorien und empirischen Untersuchungen über sogenannte schizophrene Denkstörungen und Erlebnisweisen. Der Einstieg in diese komplexen Analysen wird durch die einleitenden autobiografische Betrachtungen erleichtert.
Der Autor widerspricht in seinen Ausführungen nicht nur der im psychoanalytischen Denken teilweise noch virulenten Auffassung, Schizophrenie sei eine (wie auch immer gefasste) Form der Regression [ 4 ] – er zeigt auch, dass ein phänomenologischer Ansatz für Fragen der transkulturellen Psychiatrie wie der Sozialpsychiatrie überaus fruchtbar sein kann. Denn "natürliche Selbstverständlichkeit" erweist sich als übergreifende Kennzeichnung einer jeden Form von – ggf. auch kulturell differentem – Sozialen. Dass hiernach der Sinn sozialpsychiatrischer wie psychotherapeutischer Praxis eben darin zu bestehen hat, dieses allgemeine Soziale und die jeweils individuelle Schizophrenie in einen verständigenden Austausch zu bringen, kann am Ende sicherlich als Desiderat dieser vielseitigen und inspirierenden Studie begriffen werden. Einziger Kritikpunkt des Buchs scheint dabei die teilweise recht verallgemeinernde Verwendung des Schizophreniebegriffs (Wolfgang Blankenburgs Studie bezog sich zunächst nur auf die hebephrenen Schizophrenien) sowie die Rede vom "schizophrenen Menschen", die angesichts der heutigen Antistigma-Bewegung sicherlich einer gewissen Relativierung bedürfte.
Samuel Thoma, Berlin
E-Mail: samuel.thoma@gmx.net
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Literatur
- 1 www.michael-titze.de
- 2 Blankenburg W (1971). Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Heidelberg: Enke; 1998
- 3 Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. Heidelberg: Springer; 1946
- 4 Segal H (1955). Bemerkungen zur Symbolbildung. In: Botte-Söillius, Hrsg. Melanie Klein heute. Entwicklungen in Theorie und Praxis. Bd. 1. Stuttgart: Klett-Cotta; 2002