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DOI: 10.1055/s-0032-1311628
Forensik und Sucht
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
09. Mai 2012 (online)
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Vor 100 Jahren ist im Rahmen der Haager Konvention 1912 in einer internationalen Vereinbarung festgelegt worden, welche Substanzen bezüglich Herstellung, Handel, Anwendung und Konsum als illegal zu bewerten und zu sanktionieren sind. Die angestrebte Umsetzung in nationales Recht ist mit zeitlicher Verzögerung uneinheitlich in höchst unterschiedlicher Weise vollzogen worden, die Kontroverse über die Sinnhaftigkeit dieser Prohibitionspolitik hält an und nimmt eher an Schärfe zu.
Die rechtliche Dimension ist damit ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Umgangs mit Abhängigkeit. Nachdem Sucht in der deutschen Sozialgesetzgebung als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt worden ist, hat sich eine dynamische und hochkomplexe Entwicklung zwischen Gesetzgebung, Psychiatrie, psychosozialem Hilfesystem und Strafrechtssprechung und -praxis vollzogen.
Gemäß § 35 BtmG kann der Vollzug der Strafe ausgesetzt werden zugunsten einer anerkannten Hilfe (ursprünglich nur stationäre medizinische Rehabilitation, mittlerweile auch ambulante oder tagesklinische medizinische Rehabilitation, Substitutionsbehandlung oder andere Maßnahmen), es können Bewährungsauflagen festgelegt werden usw. Während in früheren Jahrzehnten der Maßregelvollzug, also die forensische Psychiatrie im Unterschied zum Strafvollzug, bei überwiegend Alkoholabhängigen mit entsprechender Biografie angewandt wurde, ist in den vergangenen 2 Jahrzehnten ein deutlicher Wandel festzustellen: Inzwischen werden deutlich mehr Drogenabhängige als Alkoholabhängige in der forensischen Psychiatrie untergebracht. Eine vom Hilfesystem kaum zur Kenntnis genommen Entwicklung mit der Folge insgesamt unbefriedigender Kontakte und Schnittstellen zwischen diesen Bereichen.
Darum geht es in diesem Heft, um Bedeutung, Auftrag, Rahmenbedingungen und Grenzen des Instruments Maßregelvollzug, um Unterbringung Drogenabhängiger im Strafvollzug und die damit verbundenen vielfältigen Herausforderungen und offenen Fragen.
Michael von der Haar erhebt seit über 20 Jahren bundesweit Daten zu gemäß § 64 im Maßregelvollzug untergebrachten Suchtpatienten (Straftat, Urteil, Behandlungsverlauf usw.), basierend auf freiwilliger Beteiligung der Einrichtungen, und verfügt damit über einen umfassenden Überblick über die Entwicklungen und Veränderungen im Maßregelvollzug.
Bernhard Wittmann beschreibt die therapeutischen, juristischen und politischen Herausforderungen an den Maßregelvollzug, aktuell Veränderungen und die Bedeutung des Schnittstellenmanagements vorrangig bezogen auf drogenabhängige Patienten.
Heino Stöver befasst sich mit der Unterbringung Drogenabhängiger im Strafvollzug, der Versorgungsrealität in bundesdeutschen Gefängnissen und den diesbezüglichen Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen.
Klaus Behrendt nimmt im Interview Stellung zur Bedeutung der forensischen Psychiatrie in der Versorgung Drogenabhängiger und deren komplexen Verhältnis zur Drogenhilfe unter den sich wandelnden Rahmenbedingungen.
Irmgard Vogt untersucht Suchtbehandlung unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes Zwang, die Bedeutung der therapeutischen Beziehung unter von Zwang geprägten Behandlungsbedingungen und die Effektivität diesbezüglicher Interventionen.
Unabhängig von persönlichen Positionen zur aktuellen Betäubungsmittelgesetzgebung, Strafrechtspraxis und Effektivität von Hilfsangeboten sind Entwicklungen im Maßregelvollzug, Chancen und Grenzen dieses bedeutsamen Behandlungsansatzes, aber auch im Strafvollzug von hoher Relevanz für die Drogenhilfe und insbesondere die Drogenabhängigen, deren Chancen auf Überleben und stabile Reintegration wesentlich von funktionierendem Schnittstellenmanagement und gelebter Zusammenarbeit zwischen allen Bereichen des Hilfesystems abhängen.
Ich hoffe, das vorliegende Heft kann dazu beitragen, Ihr Interesse an und Verständnis für die spezifischen Rahmenbedingungen, den Auftrag, die Möglichkeiten und Grenzen des Maßregelvollzugs und dessen Bedeutung für und im Hilfesystem zu fördern, die Zusammenarbeit und letztlich die Hilfe für die Drogenabhängigen zu verbessern. Das bedeutet: Die Chancen zu erhöhen, nach Entlassung zu überleben und mehr an Lebensqualität erreichen zu können.
Es grüßt Sie herzlich
Thomas Kuhlmann