Fortschr Neurol Psychiatr 2012; 80(7): 367
DOI: 10.1055/s-0032-1313019
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neurorehabilitation: evidenzbasiert?

Neurorehabilitation: What is evidence-based?
G. R. Fink
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Publication Date:
03 July 2012 (online)

Ca. 200 000 – 250 000 Menschen erleiden jedes Jahr in Deutschland einen Schlaganfall, mit zunehmendem demografischen Wandel steigt die Zahl der Schlaganfälle. Der Schlaganfall ist nicht nur die dritthäufigste Todesursache in den westlichen Gesellschaften, vielmehr ist er auch der wichtigste Grund dauerhafter Behinderungen (körperlich, geistig, emotional) und führt damit bei über 75 % der Schlaganfallüberlebenden zu Einschränkungen im beruflichen oder sozialen Leben.

Die effektivste Behandlung des Schlaganfalls ist die intravenöse Lysetherapie. Von diesem unstrittig segensreichen Therapieverfahren profitieren allerdings selbst in Krankenhäusern der Maximalversorgung nur ca. 15 % der Schlaganfallpatienten. Ursache hierfür sind Kontraindikationen, wie z. B. eine Vorbehandlung mit oralen Antikoagulantien oder aber schlichtweg ein verstrichenes Zeitfenster. Auch wenn die Lysetherapie ein sehr effektives Therapieverfahren ist, so profitiert doch keineswegs jeder Schlaganfallpatient, bei dem diese Therapie eingesetzt wird, von diesem Verfahren auch klinisch. Umgekehrt heißt dies, dass wir Neurologen nach wie vor bei den meisten unserer Patienten über das Leben mit dem Schlaganfall sprechen, ein Leben mit mehr oder weniger ausgeprägten körperlichen Behinderungen.

Die Rehabilitation von neurologischen Patienten nimmt deswegen zu Recht an Bedeutung weiter zu. Dies ist einerseits auf den steigenden Bedarf an rehabilitativen Maßnahmen zurückzuführen angesichts der individuellen wie auch der sozioökonomischen Folgen von Schlaganfällen. Andererseits ist der steigende Bedarf an rehabilitativen Maßnahmen auch auf neue therapeutische Möglichkeiten im Bereich der neurologischen Rehabilitation zurückzuführen, die auf einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von Methoden und Verfahren in der neurologischen Rehabilitation beruhen. Vieles in der Neurorehabilitation basiert auf empirischem Erkenntnisgewinn, zunehmend wird aber verstanden, dass ein effektiver Ressourceneinsatz eine wissenschaftliche Effizienzkontrolle neurorehabilitativer Verfahren einschließlich der Koordination multizentrischer Studien erfordert. Ebenso wichtig ist das Erarbeiten von Standards, die sowohl klare Empfehlungen personeller, struktureller und organisatorischer Art geben wie auch die explizite Mitwirkung der verschiedenen Berufsgruppen einfordern. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass auch in die Neurorehabilitation zunehmend Leitlinien und evidenzbasierte Entscheidungen Einzug halten.

Joachim Liepert, Chefarzt für Neurorehabilitation an den Kliniken Schmieder, legt in dieser Ausgabe der Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie eine Übersicht vor, die sich mit Therapieansätzen für die motorische Rehabilitation nach einem Schlaganfall beschäftigt [1]. Berücksichtigt wurden von ihm randomisierte, kontrollierte Studien, Metaanalysen und systematische Reviews, deren Auswertung zusammenfassend eine sehr gute Evidenzlage für den Einsatz der Constraint-Induced Movement Therapy bzw. von Botulinumtoxin A bei fokaler Spastik zeigen. Bei anderen Verfahren, wie dem Einsatz von Neuropharmaka, der Spiegeltherapie oder elektromechanischen Geräten, bestehen nach der Analyse von Liepert Hinweise auf eine Wirksamkeit, allerdings reicht die Evidenzlage noch nicht aus, ob sie Kontrollinterventionen wirklich überlegen sind. Für weitere Therapieverfahren, wie Laufbandtherapie oder die robotergestützte Armtherapie, existieren entweder Daten, die keine Überlegenheit im Vergleich zu Kontrollinterventionen zeigen, oder es fehlen ausreichend große klinische Studien (wie z. B. für die repetitive transkranielle Magnetstimulation).

Prinzipiell lassen sich die Möglichkeiten der therapeutischen Intervention nach einem Schlaganfall in drei große Kategorien einteilen:

  1. klassische behaviorale Verhaltensansätze, wie die Physiotherapie, die Logopädie und die Ergotherapie, aber auch Verfahren, wie die optokinetische Stimulation etc.,

  2. neuropharmakologische Interventionen, wie z. B. der Einsatz von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern oder L Dopa und

  3. minimal-technisch-invasive Interventionen, wie z. B. die repetitive transkranielle Magnetstimulation oder die transkortikale Gleichstromapplikation.

Für viele dieser Verfahren gilt, dass dringend weitere Untersuchungen bezüglich ihrer Wirksamkeit notwendig sind und damit ihr Einsatz immer auch unter kritischer Würdigung des jeweiligen Einzelfalls erfolgen sollte. Der neurologischen Rehabilitationsmedizin ist zu wünschen, dass auch hier vermehrt multizentrische Studien durchgeführt werden, die es erlauben, in randomisierten kontrollierten Studien die Überlegenheit von Therapien im Vergleich zu Therapiestandards zu belegen. Solche Studien sind kostenintensiv, werden sich aber langfristig ganz sicher im Sinne eines effizienten Ressourceneinsatzes auszahlen. Es ist die Aufgabe der Kliniker und der Wissenschaftler, entsprechende Förderinstitutionen von der Notwendigkeit der Durchführung solcher Untersuchungen zu überzeugen.

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Univ.-Prof. Dr. med. G. R. Fink