Suchttherapie 2012; 13(02): 55-56
DOI: 10.1055/s-0032-1313316
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für Sie gefragt – "Die fehlende Substitution ist ein medizinischer Skandal"

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Publication Date:
14 May 2012 (online)

 

In der Forensik werden psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter entsprechend den Maßregeln der Besserung und Sicherung untergebracht. Über den aktuellen Stellenwert der Substitutionsbehandlung im deutschen Maßregelvollzug sprach die "Suchttherapie" mit dem Hamburger Experten Dr. Klaus Behrendt.

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Straffällig gewordene Suchtkranke werden nach § 64 StGB in einer Entziehungsanstalt oder nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.(Bild: Peter Reinäcker/pixelio.)

? In der Öffentlichkeit wird im Zusammenhang mit der forensischen Psychiatrie vorwiegend über Sexualstraftäter diskutiert. Welche Bedeutung hat die forensische Psychiatrie für suchtkranke Straftäter?

Innerhalb der in die forensische Psychiatrie eingewiesenen Patienten machen die Drogenabhängigen die größte Gruppe aus. Pro Jahr werden etwa doppelt so viele Menschen in den Maßregelvollzug gemäß § 64 Strafgesetzbuch (StGB) eingewiesen wie in den gemäß § 63 StGB. Der größere Teil dieser "64er", ungefähr 60 %, sind drogenabhängige Patienten. Hier in Hamburg sind die Zahlen deutlich geringer; vermutlich weil das Drogenhilfesystem hier insgesamt wesentlich besser ausgebaut ist als anderswo.

? Während lange Zeit weit überwiegend alkoholkranke Straftäter zu forensischer Unterbringung verurteilt wurden, sind seit den 1990er-Jahren zunehmend Drogenabhängige in die forensische Psychiatrie eingewiesen worden. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre hat sich in der Gesellschaft insgesamt ein Trend zu mehr Sicherung vor Straftätern entwickelt, der von den Medien seitdem verfolgt wird und dem der Gesetzgeber immer wieder nachgibt. Die Richterschaft ist Teil dieser Gesellschaft, und auch auf sie wirkt dieser Trend ein. Erfreulicherweise scheint die Kurve der Einweisungen jetzt wieder etwas abzuflachen.

? Die Substitutionsbehandlung Drogenabhängiger ist nach jahrzehntelanger intensiver Auseinandersetzung inzwischen auch in Deutschland eine fachlich und politisch akzeptierte Behandlungsoption. In der Justizvollzugsanstallt (JVA) hingegen ist die Möglichkeit der substitutionsgestützten Behandlung bundesweit nicht flächendeckend sichergestellt und wird weiterhin auf vielen Ebenen faktisch blockiert. Wie ist der Stellenwert der Substitutionsbehandlung in der forensischen Psychiatrie?

Möglicherweise wird in seltenen Einzelfällen auch in anderen "64er"-Einrichtungen eine Substitutionsbehandlung ermöglicht. Aber nach meiner Kenntnis ist die Klinik für forensische Psychiatrie in Hamburg die einzige, in der Substitutionsbehandlung als selbstverständliche Behandlungsmöglichkeit mit angeboten wird. Angesichts der Entwicklung der Substitutionsbehandlung in Deutschland und der klaren Richtlinien der Bundesärztekammer zu dieser Frage ist diese Mangelsituation, wie auch die fehlende Versorgung mit Substitution in vielen JVAs, ein medizinischer Skandal.
Als Ursache kann man u. a. auch ein Missverständnis der beteiligten Sachverständigen und möglicherweise auch der Richter annehmen, die vielleicht die Substitutionsbehandlung im Maßregelvollzug nicht für möglich halten. In der JVA und auch in der Maßregel müsste nach den dafür geltenden gesetzlichen Bestimmungen eigentlich behandelt werden wie draußen, also in der Freiheit, wo mehr als die Hälfte der Betroffenen substituiert werden. Hier in Hamburg gibt es dieses Angebot regelhaft. Es wird von ca. einem Drittel der drogenabhängigen Patienten aktuell wahrgenommen.

? Und wie sind die dortigen Möglichkeiten bezüglich der Substitutionsbehandlung?

Wie gesagt, konkret angeboten wird diese Behandlung nach meiner Kenntnis nur in Hamburg und sonst nirgends. Im Januar 2011 hat hier in der Hansestadt eine Tagung zu diesem Thema stattgefunden. Seitdem ist ein gewisses Interesse festzustellen, das sich im Wunsch nach Hospitationen und in Vortragsanfragen an den Chefarzt des Maßregelvollzuges ausdrückt.

? Welchen Stellenwert hat die forensische Psychiatrie in der ambulanten und klinischen Sucht- und Drogenhilfe?

Grundsätzlich machen Patienten aus der forensischen Psychiatrie Mitarbeitern anderer ambulanter oder auch klinischer Einrichtungen Angst. Das gilt selbst innerhalb der Asklepios Klinik Nord. Soweit bei Patienten der Maßregel eine schwere komorbide Störung, z. B. eine Psychose und Drogenabhängigkeit vorliegt, werden sie in der forensischen Ambulanz behandelt, das geschieht in der Regel in Zusammenarbeit mit unserer Drogenambulanz. Der Stellenwert ergibt sich ansonsten aus dem Zahlenverhältnis: 60 % unserer Maßregelpatienten gemäß § 64 StGB sind drogenabhängig; d.h. es gibt einen Bedarf für ca. 30 Personen pro Jahr, nach Entlassung aus der Maßregel im Drogehilfesystem weiterversorgt zu werden.

? Und wie sehen Sie die Schnittstellen?

Die Versorgung für diese Patienten ist in Hamburg unproblematisch und am Bedarf des Patienten orientiert. Die oben beschriebene Stigmatisierung gilt für diese Patienten nicht. Es gibt eine gute Zusammenarbeit zwischen der klinisch-stationären Maßregelvollzugseinrichtung und den Drogenberatungsstellen und anderen Einrichtungen des Drogenhilfesystems.

? Welchen Herausforderungen müssen sich die Sucht- und Drogenhilfe und die forensische Psychiatrie stellen, um dem Behandlungsauftrag gerecht zu werden und v. a. die Reintegration der Patienten sicherzustellen?

Ich bin mir nicht sicher, ob ein vergleichbar unkompliziertes Verhältnis wie in Hamburg zwischen Forensik und regionaler Drogenhilfe überall besteht. Wünschenswert ist, dass die Mitarbeiter der Forensik den Kontakt zum Drogehilfesystem suchen und die regionalen Drogenhilfeeinrichtungen erkennen, dass die Forensik kein geschlossenes System ist und auch nicht sein kann. In der Regel geht es um Patienten, die in der Drogenhilfe schon viel länger bekannt sind als in der Forensik, und die auch nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug weiter die Unterstützung durch das Drogenhilfesystem brauchen werden.

Die Fragen stellte Dr. Thomas Kuhlmann, Bergisch Gladbach

Zur Person
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Dr. Klaus Behrendt, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und forensische Psychiatrie. Seit 1995 ist er Chefarzt der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen der Asklepios Klinik Nord, Standort Ochsenzoll, seit 1992 Mitglied des Suchtausschusses der Bundesdirektorenkonferenz psychiatrischer Krankenhäuser, seit 2006 Vorstandsmitglied der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen und seit 1999 im Vorstand der DGS.


Er schrieb zahlreiche Veröffentlichungen und hielt Vorträge zu den Themen Drogenabhängigkeit, Drogenentzug, Substitutionsbehandlung und suchtspezifischer Weiterbildung.