Geburtshilfe Frauenheilkd 2012; 72(7): 588-593
DOI: 10.1055/s-0032-1314970
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Häusliche Gewalt und Missbrauch. Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen und Kindern – die ärztliche Herausforderung

Katharina Rall
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Publication Date:
31 July 2012 (online)

Hintergrundwissen

Folgen von Gewalt sind zum einen direkter körperlicher Natur. Gewalt wirkt sich aber indirekt auch durch psychische und psychosoziale Beeinträchtigungen aus. Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen und sexueller Missbrauch von Kindern sind ein wichtiger Teil des generellen Gewaltphänomens. Die besondere Schwierigkeit des Themas besteht darin, dass es nicht nur eine hohe Dunkelziffer und gezielte Verschleierung gibt, sondern dass auf der anderen Seite auch angenommene oder behauptete sexuelle Gewalt als Mittel in rechtlichen Auseinandersetzungen (z. B. auch über das Sorgerecht für Kinder) eingesetzt wird. Der Arzt muss sich deshalb nicht nur des Tatbestands sehr bewusst sein und eine geschärfte Aufmerksamkeit für Symptome haben; er braucht auch ein geschärftes Urteilsvermögen und eine gute Kenntnis darüber, was sich in welchem zeitlichen Abstand zur angenommenen Tat medizinisch gesichert feststellen lässt. Darüber hinaus muss er natürlich methodisch sicher in der Untersuchung sein, deren Implikationen für die Therapie kaum überschätzt werden kann.

Tipp für die Praxis

Eine Intervention bei V. a. sexuellen Missbrauch von Kindern muss gut überlegt und durchdacht sein: Niemals überstürzt handeln oder sofort Anzeige erstatten. Die Folgen für das Kind können katastrophal sein!

Ausmaß der sexuellen Gewalt

In Deutschland ist davon auszugehen, dass etwa jede 4. Frau in ihrem Erwachsenenleben mindestens einmal körperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch einen Beziehungspartner erlebt hat. Werden andere Täter einbezogen, so liegt der Anteil der ab dem 16. Lebensjahr Betroffenen bei 37 %. Die Vorstellung, Gewalt gegen Frauen komme nur in schwierigen sozialen Lagen vor, muss relativiert werden. Es lässt sich auch kein einfacher Bildungs- und Schichtzusammenhang in Bezug auf häusliche Gewalt feststellen.

Merke

Mindestens jede 5. Frau hat im Laufe ihres Lebens geschlechtsbezogene Gewalt mit gesundheitlichen Folgen erfahren.

In Deutschland wird die Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen auf 90 % bei 15 000 angezeigten Fällen pro Jahr geschätzt. In 60 % der Fälle handelt es sich um innerfamiliären Inzest, in der Hälfte davon durch Väter, in ca. 30 % durch Bekannte und nur in 6–8 % um Fremdtäter.

Merke

Der weitaus größte Anteil sexuellen Missbrauchs Minderjähriger findet im unmittelbaren familiären Umfeld statt.

In 50–60 % der Fälle beginnt der Missbrauch im Vorschulalter und dauert zu über 70 % mehr als 2 Jahre an.

Tipp für die Praxis

Bei sexuellem Missbrauch fehlen meist gröbere körperliche Verletzungen. Nur 10 % weisen körperliche Spuren der Gewalt auf.


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Mögliche Hinweise auf sexuelle Gewalt

Knapp 70 % der betroffenen Frauen und jugendlichen Mädchen erstatten binnen 24 h nach einer Vergewaltigung Anzeige, bei den anderen dauert es zum Teil Jahre, bis sie diesen Schritt wagen. Bei Kleinkindern und Schulkindern ist die Dunkelziffer nach allen Studien sehr viel höher. Entsprechend kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Aufdeckung beträchtlich sein – wenn der Tatbestand überhaupt transparent wird. Die medizinische Diagnose wird mit steigendem zeitlichen Abstand schwieriger und in der Regel auch unsicherer, deshalb sollte besonders auf indirekte Anzeichen geachtet werden ([Tab. 1]).

Tab. 1 Mögliche Schäden nach Missbrauch, gegliedert nach Störungsdimension und Altersspezifik (mod. nach [1]).

Altersstufe

psychosexuelle Symptome

psychosomatische Symptome

Erlebnis- und Verhaltensauffälligkeiten

Kleinkinder

altersunangemessenes provokatives sexuelles Spiel und Verhalten

Enuresis, Enkopresis, Schlaf- und Essstörungen

Sprachregression, Tics, Nägelknabbern, Furcht mit Anklammerungsverhalten

Schulkinder

exzessive Masturbation, aggressives sexuelles Verhalten

Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Genital- und Abdominalbeschwerden, Albträume

Angst, Verstörtheit Depression, Mutismus, Selbstdestruktion, Aggressionen, Regression oder Pseudoreife, Weglaufen, sozialer Rückzug, Schulversagen

Adoleszente und Erwachsene

Hemmung oder Blockierung der Sexualentwicklung, Enthemmung, funktionelle Sexualstörungen

Nahrungsverweigerung, Schwindelgefühle, Genital- und Abdominalbeschwerden

Isolation und Rückzugsverhalten, Verwahrlosung, hysterische Reaktionen, dissoziatives Verhalten

Merke

Unspezifische Symptome können in jeder Altersgruppe Hinweis auf erfahrene sexuelle Gewalt sein.

Nach den Ergebnissen der bundesdeutschen Gewaltprävalenzstudie trugen etwa die Hälfte der Opfer körperlicher und gut zwei Fünftel der Opfer sexueller Gewalt nach eigenen Angaben Verletzungen unterschiedlichen Ausmaßes davon.

Merke

Die Wahrscheinlichkeit eines gynäkologischen Leidens ist bei misshandelten Frauen deutlich höher als in der Kontrollgruppe.


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