Gesundheitswesen 2012; 74 - A78
DOI: 10.1055/s-0032-1322064

Sturzprävention im Krankenhaus – ein Beispiel zur Vereinbarkeit sozialmedizinischer und wirtschaftlicher Interessen

L Neumann 1, V Hoffmann 2, S Golgert 1, J Hasford 2, W von Renteln-Kruse 1
  • 1Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie, Wissenschaftliche Einrichtung an der Universität Hamburg
  • 2Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie, Ludwig-Maximilians Universität München

Hintergrund: Sturzereignisse geriatrischer Patienten im Setting Krankenhaus stellen unerwünschte Ereignisse dar und werden mit Sturzraten von 1,3–8,9/1000 Belegtage berichtet.[1] In Folge von Frailty und Multimorbidität im höheren Lebensalter ist diese Patientengruppe hoch vulnerabel. Bezogen auf die Zielsystematik der Organisation Krankenhaus ist die Sturzprävention ein Beispiel, an dem die Vereinbarkeit von Sach- und Formalziel [2] gezeigt werden kann: Sturzereignisse in der Klinik sind mit hohem Ressourceneinsatz verbunden, wie internationale Studien zeigen. Die Versorgungskosten der häufigsten DRGs sind bei Stürzern doppelt so hoch im Vergleich zu nicht gestürzten Patienten [3]. Die Kosten ernster Sturzereignisses im Krankenhaus werden mit US$ 4.233 [4] beziffert. In Deutschland ist ein quantitativer Anstieg in der Erbringung der ICD10 S00-T98 (Verletzungen, Vergiftungen und best. andere Folgen äußerer Ursache inkl. Sturz) für über 65-Jährige zu konstatieren, der sich zwischen 2002–2008 in einem Anstieg der Krankheitskosten im Krankenhaus um 38% auf 6.674 Mio.€ darstellt [5]. Die Vermeidung von Stürzen in der Klinik ist somit aus Patienten- als auch aus ökonomischer Sicht von Interesse. Die Erkennung gefährdeter Patienten ist Voraussetzung zur Einleitung wirksamer multimodaler Sturzpräventionsmaßnahmen [6]. Anlässlich akuter Erkrankungen, Veränderungen der Mobilität [7] und Kognition, stellt die Erkennung Sturz-Gefährdeter im Krankenhaus eine Herausforderung dar und erfolgreiche Instrumente anderer Settings können nicht ohne weiteres übertragen werden [8]. Ziel ist somit die Definition einer Hochrisikogruppe mittels eines komprimierten, prädiktiven Instruments, um eine Sturzrisikoeinschätzung im Behandlungsverlauf vorzunehmen und Ressourcen wirtschaftlich einzusetzen.

Methoden: Zunächst wurde das verbreitete STRATIFY Sturzrisiko-Assessment [9] an 4.931 Patienten einer geriatrischen Akutklinik retrospektiv evaluiert. Mittels Split-Sampling folgte eine Bewertung der Risikofaktoren positive Sturzanamnese, mentale Alteration, Mobilität, Sehbeeinträchtigung, Toilettengänge sowie Alter, Geschlecht und psychotrope Medikation am Testdatensatz von n=2.594 Patienten. Auf Basis eines Zählmodells wurden die essentiellen Risikofaktoren in ein neues Instrument überführt und ein Cut-Off Wert bestimmt. Am zeitlich unabhängigen Validierungsdatensatz (n=2.141) erfolgte die retrospektive Validierung [10] der Prädiktivität des Instruments.

Ergebnisse: Positive Sturzanamnese, mentale Alteration sowie unsichere Mobilität (Summe Barthel-Index Items „Transfer“ und „Gehen“ 5–15 Punkten) erzielten hochsignifikante (p<0,0001) Ergebnisse. Sie wurden als Risikofaktoren des LUCAS Sturzrisiko-Screenings mit einem Cut-Off von ≥2 festgelegt. Ausgenommen für den Risikofaktor Alter (p=0,684) konnten für die Restlichen ebenso signifikante Assoziation nachgewiesen werden. Der Vergleich der Hochrisiko-Gruppengröße des STRATIFY vs. LUCAS Sturzrisiko-Screenings am Validierungsdatensatz zeigt, dass letzteres eine kleinere Hochrisikogruppe bildete (STRATIFY: 41,99% vs. LUCAS 30,64%), wobei jedoch die Prädiktivität gemessen am Youden-Index gleich blieb STRATIFY: Y=0,17 (0,1–0,24) vs. LUCAS: Y=0,17 (0,1–0,24).

Diskussion: Interventionen zur Vermeidung von Sturzereignissen im Setting Krankenhaus zeigen, dass wirtschaftliche und sozialmedizinische Ziele vereinbar sind. Das LUCAS Sturzrisiko-Screening definiert eine präzisere Hochrisikogruppe bei gleicher Prädiktivität im Vergleich zum etablierten STRATIFY Sturzrisiko-Assessment. Das Instrument ermöglicht damit eine effektive und effiziente Planung präventiver Maßnahmen unter Einsatz knapper Ressourcen. Da nachhaltige Effekte auch über den Krankenhausaufenthalt hinaus durch Vermeidung von Pflegebedürftigkeit und schlechtem funktionalen Ergebnis generiert werden, ist die Sturzprävention auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht von Interesse [11]. Gleichwohl bedarf das Instrument einer prospektiven Validierung, in der die bisherigen Ergebnisse weiter kritisch geprüft werden [12]. Ebenso ist eine Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnis von Sturzpräventionsmaßnahmen im Krankenhaus vorzunehmen.

Hinweis: Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) BMBF Förderkennzeichen LUCAS Teilprojekt 6: 01ET1002A.

Literatur:

[1] Oliver D et al. (2010) Clin Geriatr Med 26:645–692

[2] Zapp W et al. (2009) Controlling-Instrumente für Krankenhäuser. Stuttgart 20–29

[3] Hill KD et al. (2007) Aust Health Rev 31(3):471–7

[4] Bates DW et al. (1995) Am J Med 99(2):137–43

[5] Gesundheitsberichtserstattung des Bundes www.gbe-bund.de, Stand März 2012

[6] v. Renteln-Kruse W et al. (2007)J Am Geriatr Soc 55(12): 2068–2074

[7] Vassallo M et al. (2003) Age Ageing 32(3):338–42

[8] Udell et al. (2011) Cochrane Database of Systematic Reviews 2011 4, Art No.: CD009074

[9] Oliver D et al. (1997) BMJ 315(7115):1049–53,

[10] Haines TP et al. (2007) Gerontology 62A(6):664–672

[11] Murray et al.(2007)J Am Geriatr Soc 55(4):577–82

[12] Haines TP et al. (2007) Gerontology 62A(6):664–672