Gesundheitswesen 2012; 74 - A82
DOI: 10.1055/s-0032-1322068

Personbezogene Faktoren der ICF – ethische Aspekte

E Nüchtern 1
  • 1Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg, Lahr

Hintergrund: Klassifikationen sind ein Instrument modernen Managements im Gesundheitswesen. Sie ermöglichen es, standardisiert vorzugehen. Klassifikationen können auch missbraucht werden. Die ICF enthält deshalb ethische Leitlinien (Anhang 6). Im Zusammenhang mit dem Entwurf einer Liste personbezogener Faktoren der ICF, die die AG ICF des Fachbereichs II der DGSMP 2010 zur Diskussion stellte, wird aus sozialmedizinischer Sicht den beiden ethischen Fragen nachgegangen: 1.) Ist der Vorschlag einer Liste personbezogener Faktoren ethisch vertretbar? 2.) Welche Anforderungen stellen sich aus ethischer Sicht bei der Erstellung und Anwendung einer solchen Liste?

Methodik: Der Beitrag geht aus von einem Verständnis von Ethik als der praktischen Wissenschaft, die nach dem richtigen Handeln fragt. An Hand von wegweisenden ethischen Grundlegungen wie Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik und der 5 Grundsätze von Kitchener wird eine Antwort auf die beiden Fragen versucht.

Ergebnisse: 1.) Der Vorschlag einer Liste personbezogener Faktoren ist ethisch begründbar. Durch die Existenz einer Liste personbezogener Faktoren gewinnen diese Gestalt. Ihre Berücksichtigung wird erleichtert und damit die umfassende Beschreibung auch der internen Einflussfaktoren auf die Auswirkungen einer Krankheit. Die Inklusion von Menschen mit Behinderung erfordert deren ganzheitliche Betrachtung einschließlich des persönlichen Lebenshintergrunds, soweit relevant. 2.) An die Erstellung einer Liste personbezogener Faktoren sind Anforderungen aus ethischer Sicht zu stellen. Die Items wurden deshalb ausdrücklich möglichst umfassend, universell, wertneutral, handhabbar, relevant, eindeutig, final ausgerichtet und nicht diskriminierend formuliert. Um die sozialmedizinische Perspektive zu erweitern, wurden andere Berufsgruppen und Patientenvertreterinnen in den Entwicklungsprozess einbezogen. 3.) Ethische Aspekte sind vor allem bei der Anwendung einer Liste personbezogener Faktoren zu beachten. a) Eine Liste personbezogener Faktoren soll nützen. Sie kann dazu beitragen, die individuellen Einflussfaktoren auf die Auswirkungen eines Gesundheitsproblems zu berücksichtigen und insofern eine sachgerechte Bewertung bei sozialmedizinischen Fragestellungen erleichtern. b) Sie soll möglichst wenig Schaden stiften. Die ärztliche Schweigepflicht, die Amtsverschwiegenheit, das Datenschutzrecht verhindern in Deutschland eine unbefugte Nutzung persönlicher Daten. c) Bei der Beschreibung personbezogener Faktoren mithilfe einer strukturierten Liste soll die Patientenautonomie respektiert werden. Dies gilt bei der Erfassung personbezogener Faktoren ebenso wie bei der Erfassung anderer gesundheitsbezogener Daten. d) Personbezogene Faktoren sollen im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung erhoben werden. e) Die Anwendung einer Liste personbezogener Faktoren kann der Gerechtigkeit dienen, indem die vom SGB I gebotene individuelle Betrachtung unterstützt wird.

Schlussfolgerung: Die ICF klassifiziert nicht Menschen, sondern Manifestationen von Gesundheitsproblemen und Einflussfaktoren auf Funktionsfähigkeit und Behinderung. Die Autoren des Vorschlags einer Liste personbezogener Faktoren für den deutschen und schweizerischen Sprachraum waren sich der Wichtigkeit ethischer Gesichtspunkte bewusst. Die Liste wurde entsprechend formuliert. Die Erstellung einer Liste personbezogener Faktoren für die Berücksichtigung individueller Einflussfaktoren entspricht dem Anliegen der praktischen Sozialmedizin, für Sozialleistungen relevante medizinische Sachverhalte individuell und umfassend zu beschreiben. Ein verantwortungsvoller Gebrauch der vorgeschlagenen Liste entsprechend den elf Leitlinien in Anhang 6 der ICF wird ausdrücklich gefordert. Unter Beachtung der ethischen Prämissen für die Anwendung der ICF kann die strukturierte Erfassung personbezogener Faktoren in praktischer Sozialmedizin und Rehabilitation die individuelle Ableitung von Interventionsbedarf oder der Notwendigkeit eines Nachteilausgleichs erleichtern.

Literatur:

1. Bundesärztekammer. (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (Stand 2011). http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp? his=1.100.1143,

2. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), Hrsg. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, ICF. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2004

3. Geyh S, Peter, C., Müller, R., Bickenbach, J. E., Kostanjsek, N., Üstün, B. T., Stucki, G., & Cieza, A. (2011). The Personal Factors of the International Classification of Functioning, Disability and Health in the literature – a systematic review and content analysis. Disability and Rehabilitation, 33, 1089–1102

4. Grotkamp S, Cibis W, Behrens J P, Bucher O, Deetjen W, Nyffeler ID, Gutenbrunner C, Hagen T, Hildebrandt M, Keller K, Rentsch HP, Schian H, Schwarze M, Sperling M, Seger W. Personbezogene Faktoren der ICF – Entwurf der AG „ICF“ des Fachbereichs II der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). Gesundheitswesen 2010 72: 908–916

5. Kant I. Kritik der praktischen Vernunft. Hamburg: Meiner 2003

6. Kitchener KS. Foundations of ethical practice, research, and teaching in psychology. New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates 2000

7. Platon. Der Staat/Politeia. Berlin: Von Oldenbourg Akademieverlag 2011

8. Viol M, Grotkamp S, van Treeck B, Nüchtern E, Manegold B, Eckardt S, Penz M, Seger W. Personbezogene Kontextfaktoren, Teil I: Ein erster Versuch zur systematischen, kommentierten Auflistung von geordneten Anhaltspunkten für die sozialmedizinische Begutachtung im deutschen Sprachraum. Gesundheitswesen 2006 68, 747–759

9. Weber M. Politik als Beruf (1919). Auszug unter dem Titel: ‚Der Beruf zur Politik‘ in: Weber M. Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik. Hrsg. Winckelmann J. Stuttgart: Kröner 1968, S. 167–185.

10. Weltgesundheitsorganisation. International Classification of Functioning, Disability and Health: ICF. Genf: Weltgesundheitsorganisation 2001