Balint Journal 2012; 13(04): 125
DOI: 10.1055/s-0032-1327597
Studenten
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Anamnesegruppe – Selbsthilfegruppe?

Anamnesisgroup – Supportgroup?
S. Aichinger
1   Eberhard-Karls-Universität Tübingen
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
21. Dezember 2012 (online)

Einleitung

Die Tübinger Anamnesegruppentutoren wurden von 2004 bis 2012 von Herrn Professor Petzold supervidiert. Während dieser Zeit ermutigte er die Tutoren, ihre Gedanken und Gefühle zur Anam­nesegruppe schriftlich festzuhalten. Der folgende Text ist anlässlich der Verabschiedung Professor Petzolds als Supervisor entstanden und war ursprünglich ein Brief einer Tutorin an ihn und die anderen Tutoren.

Nun sind schon beinahe 6 Jahre vergangen, seitdem ich zum ersten Mal im Multifunktionsraum der psychosomatischen Ambulanz in der Osianderstraße in Tübingen saß und mich verlegen und unsicher zur Anamnesegruppe anmeldete.

Seither ist viel Zeit verstrichen und ich finde mich nun am Ende meines Studiums wieder, genauer gesagt, in der Examensvorbereitung. In Hinblick auf einen nun greifbaren Berufsanfang habe ich in den letzten Wochen einige Bewerbungen für eine spätere Anstellung verfasst. Bei dem Gedanken an Zeugnisse und Bescheinigungen über meine Qualitäten wurde mir ganz flau im Magen. Immer hatte ich mich gescheut, mir so etwas ausstellen zu lassen. Dennoch hatte ich das Gefühl, so etwas gehöre zu einer Bewerbung dazu. Und so habe ich überlegt, was mich wirklich mein Studium über begleitet hat, wo ich Herzblut reingesteckt habe und was ich gerne vorzeigen würde.

Es ist die Arbeit in der Anamnesegruppe.

Daher bat ich Herrn Petzold, mir ein kleines ­Schreiben über meine Arbeit als Tutorin auszustellen. Was ich erhielt, war ein Zeugnis mit dem Vermerk, ich könne gerne Veränderungen vornehmen. Eigentlich gab es nichts, was ich ändern wollte. Bis auf einen Ausdruck, über den ich stolperte. Herr Petzold beschrieb dort die Anamnesegruppe als studentische Selbsthilfegruppe. Wollte ich Teil einer Selbsthilfegruppe sein? Brauchte ich das? Waren wir kranke Studenten, denen eine Heilung zuteil kommen sollte? Angeschlagene junge Menschen, die sich gegenseitig therapieren mussten? Nein, fand ich und so bat ich Herrn Petzold, diesen, in meinen Ohren pathologisierenden, Ausdruck umzuändern. Er nahm dies unverzüglich vor, doch im Nachhinein konnte ich den Gedanken an diese Formulierung nicht abschütteln.

Ich habe diese Worte hin und her bewegt. Mir kam ein Patient in den Sinn, der sagte, er kenne solche Gruppen- aus seinem Schäfehundezüchterverein. Was waren wir nun also? Verirrte Studierende, Hundehalter, Selbstgestalter?

Je mehr ich darüber grübele, desto eher denke ich, dass Herr Petzold mit seinen Worten recht hatte. Welche Wirkung hat die Anamnesegruppe auf mich gehabt, wenn nicht eine heilende? Wie oft bin ich nach den Gesprächen, nach dem Austausch über Gefühle erleichtert nach Hause gegangen? Wie viele neue Denkanstöße habe ich mitgenommen? Wie viel Selbsterkenntnis habe ich erlangt? Wie viel Mut und Kraft und nicht zuletzt Leidenschaft für den Beruf haben mir die unzähligen Abende gegeben? Wie wichtig war die gemeinsame Erkenntnis, in der Gruppe Halt zu finden?

Seit dem dritten Semester begleitete mich die Anamnesegruppe nun. In dem Semester, in dem Leichen präpariert wurden und Patientenkontakt eine Rarität war. In dem Semester, in dem ich mich nach etwas anderem gesehnt habe. Nach Inspiration, nach Nähe, nach Unterstützung. In dem Semester, in dem ich das gefunden habe. In der Gruppe, die mir zu einem anderen Zugang zum Arztwerden und -sein verholfen hat. Und was könnte diese Gruppe schöneres sein, als eine Selbsthilfegruppe? Die Anamnesegruppe.