Zeitschrift für Komplementärmedizin 2012; 4(6): 23-25
DOI: 10.1055/s-0032-1327915
zkm | Wissen
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart · New York

Pro & Kontra: Einsatz von Kortison bei akutem Hörsturz mit Tinnitus

Further Information

Publication History

Publication Date:
17 December 2012 (online)

Pro

Zoom Image
Prof. Dr. Gerhard Hesse
Hals-Nasen-Ohren-Arzt
Tinnitus-Klinik im Krankenhaus Bad Arolsen
Mitglied der Leitlinienkommissionen Hörsturz und Tinnitus
ghesse@tinnitus-klinik.net
www.tinnitus-klinik.net

Hörsturz und akuter Tinnitus – medizinische Eilfälle

Eine plötzliche, zumeist einseitige Hörminderung, besonders wenn sie durch ein zusätzlich auftretendes Ohrgeräusch begleitet wird, ist eine für den Betroffenen überaus bedrohlich erlebte Situation, wird doch seine Kommunikationsfähigkeit drastisch eingeschränkt. Durch den Tinnitus wird der Patient zusätzlich „aus der Ruhe gebracht“.

Für Deutschland (und vergleichbar auch für andere Industrienationen) beträgt die Inzidenz zwischen 160 und 400/100 000 pro Jahr [1]. Das bevorzugte Erkrankungsalter liegt um das 50. Lebensjahr. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen; im Kindesalter ist der Hörsturz eine Seltenheit. Da es eine hohe Rate von Spontanheilungen gibt (zwischen 40 und 70 %) können Betroffene 24–48 Stunden abwarten, ehe sie einen Ohrenarzt aufsuchen – wir sprechen von einem medizinischen Eilfall, keinem Notfall. Allerdings sinkt nach 2–3 Tagen die Spontanerholung signifikant ab, dann sollte eine Therapie eingeleitet werden.

Der Hörsturz ist jedoch kein einheitliches pathophysiologisches Geschehen mit klar definierbarer Ursache. Diskutiert werden vaskuläre oder rheologische Ursachen, Entzündungen oder zelluläre Regulationsstörungen [2]. Stress scheint ein wesentlicher auslösender Faktor zu sein. Entsprechend kann auch keine einheitliche kausale Therapie für den Hörsturz angegeben werden.


#

Kortison als Erst- und Soforttherapie

In der klinischen Praxis haben empirisch belegte Therapieverfahren positive Wirkung in Bezug auf die Hörerholung erkennen lassen, bei denen mittlerweile insbesondere für die Gabe von Glukokortikoiden auch einige verlässliche wissenschaftliche Studien vorliegen.

Die wichtigsten pharmakologisch-biochemischen Wirkungen der Glukokortikosteroide beruhen auf ihren immunologischen, antiinflammatorischen, antiödematösen und membranstabilisierenden Eigenschaften [3].

Die Wirkung von Glukokortikoiden in der Kochlea beruht darauf, dass die Kortisolfreisetzung als Teil des körpereigenen Hormonsystems besonders als Reaktion auf interne und externe Stressoren über das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierensystem (HPA-Achse) geregelt wird. Im Gehirn existieren spezifische Glukokortikoidrezeptoren, die im Innenohr die kochleäre Sensitivität modulieren und so einen Schutz vor akustischem Trauma bilden. Weiter spielen die Glukokortikoidrezeptoren eine Rolle in der Erholung der Zellen und insbesondere des Spiralganglions nach Trauma; beeinflusst werden die biochemischen Abläufe der Apoptose, des plötzlichen Zelltods. Parallel dazu schützt die Kortisolexprimierung gegen inflammatorische Prozesse, die bei akustischem und vibratorischem Trauma, aber auch bei Autoimmunprozessen entstehen und durch Zytokine vermittelt werden. Eine zusätzliche Rolle spielen Glukokortikoidrezeptoren bei der Regulation nukleärer Faktoren in der Kochlea, die ebenfalls dem Schutz und der Erholung durch die Wirkung neurotropher Faktoren dienen [4].

Bei ischämischen Reaktionen, die in der Kochlea nach Traumata und Stressbelastungen auftreten, kommt es zu Schädigungen besonders in den äußeren Haarzellen, etwa durch Glutamat und Kalziumeinstrom, außerdem entstehen freie Radikale und Stickstoffoxyd (NO), die ebenfalls die Haarzellen schädigen. Glukokortikoide antagonisieren diese Prozesse [5].

Daher hat die systemische Glukokortikosteroidtherapie in der Behandlung des Hörsturzes einen festen Stellenwert, auch wenn in klinischen Studien die Wirksamkeit uneinheitlich beurteilt wird. In einer systematischen Übersicht (Metaanalyse) der Cochrane-Collaboration werden 2 randomisierte Studien berücksichtigt, die Kriterien evidenzbasierter Medizin erfüllten. Verglichen wird die Wirksamkeit oraler Glukokortikosteroide beim Hörsturz gegen Placebo oder Nulltherapie [6]: Eine Studie fand keinen Effekt lokaler Steroide im Vergleich zu Placebo, die andere Studie [7] beschrieb eine signifikante Verbesserung von 61 % Hörverbesserung bei den Patienten, die mit Kortison behandelt worden waren, gegenüber nur 32 % der Kontrollgruppe. In ihrer Schlussfolgerung konstatieren die Autoren, es gäbe keine ausreichende Evidenz für die Wirksamkeit von Steroiden, aber auch keine Evidenz für deren Unwirksamkeit.

Wichtig scheint aber eine ausreichende Dosis zu sein, wie eine aktuelle qualitativ hochwertige Studie zeigt: Bei niedrig dosierter oraler Prednisolontherapie (60 mg/Tag mit nachfolgender Dosisreduktion) ergibt sich im Vergleich zu Placebo keine Wirksamkeit [8].

Als initiale Therapie des Hörsturzes sollten daher Glukokortikosteroide höher dosiert eingesetzt werden: Die Therapie sollte 3 Tage mit jeweils 250 mg Prednisolon oder einem anderen synthetischen Glukokortikosteroid mit äquivalenter Dosierung als Kurzinfusion durchgeführt werden. Wegen der möglichen hyperglykämischen Wirkung des Kortisons sollten die Blutzuckerwerte kontrolliert werden, bei Diabetikern ist die Therapie, wenn überhaupt, nur unter internistischer Kontrolle durchzuführen. Da die Therapie nur kurzzeitig durchgeführt wird, ist nach fast 30-jähriger eigener klinischer Erfahrung dieses Risiko tolerabel. Bei oraler Gabe ist auf einen entsprechenden Magenschutz zu achten.


#

Intratympanale Kortisontherapie

Eine neue, bislang nur in wenigen qualitativ hochwertigen Studien evaluierte Therapie ist die lokale (intratympanale) Anwendung von Glukokortikosteroiden. Dabei wird nach gängigen Empfehlungen das Dexamethason an ein Gel, i. d. R. Hyaluronsäure-Hydrogel (im Handel als Augentropfen erhältlich), gebunden und in Seitenlage nach Lokalanästhesie durch das Trommelfell in das Mittelohr injiziert. Der große Vorteil liegt darin, dass systemische Nebenwirkungen hier nicht zu erwarten sind.

Nach Untersuchungen an Tieren verteilt sich das am runden Fenster applizierte Medikament in der Perilymphe der Kochlea gut [9].

Eine Literaturübersicht der Jahre 1996–2009 (36 Studien, davon 6 randomisiert) zur intratympanalen Therapie stellte fest, dass bei therapierefraktärem akuten Hörverlust die IT-Gabe eine gute therapeutische Option ist. Als Ersttherapie ist diese Behandlung in randomisierten Studien der systemischen Therapie zumindest ebenbürtig [10].

In einer randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Studie aus Taiwan [11] wurde bei Hörsturzpatienten nach erfolgloser systemischer steroidaler Erstbehandlung intratympanal Kortison bzw. Kochsalz gegeben. Die Therapieerfolge waren in der Verumgruppe signifikant höher als bei der Placebogruppe.

Schließlich existiert eine Untersuchung aus Italien, welche die Wirksamkeit einer Kombination aus intratympanaler (IT) Dexamethasongabe und hochdosierter systemischer Prednisongabe (HDPT) auswertet. 51 Patienten mit plötzlichem idiopathischen Hörverlust wurden randomisiert in 3 Gruppen aufgeteilt: Gruppe A erhielt IT und systemisch ein Placebo. Gruppe B bekam HDPT und eine Placebo-IT-Behandlung, Gruppe C sowohl Dexamethason IT als auch HDPT. Dabei erholte sich das Hörvermögen bei Gruppe C signifikant besser. Auch IT-Gabe allein war der systemischen Gabe noch überlegen [12].


#

Fazit

Grundsätzlich sollte bei plötzlicher Hörminderung, die sich nicht spontan erholt, eine medikamentöse Therapie erfolgen. Dabei ist die Kortisongabe vorzuziehen, auch wenn die Studienlage nicht eindeutig ist. Als Reservetherapie bietet sich die intratympanale Applikation von Glukokortikosteroiden bei Patienten nach erfolgloser systemischer Therapie oder bei hochgradigem Hörverlust an. Ob wegen der geringeren Nebenwirkungen diese Therapie primär erfolgen sollte, wird derzeit noch untersucht.

Ein bleibender Hörverlust stellt für den Betroffenen und nicht zuletzt für seine Umwelt eine erhebliche Beeinträchtigung dar, dies rechtfertigt auch aus ethischen Gründen eine klinisch seit vielen Jahren bewährte Therapie.


#
 
  • Literatur

  • 1 Klemm E, Deutscher A, Mösges R. Aktuelle Stichprobe zur Epidemiologie des idiopathischen Hörsturzes. Laryngo-Rhino-Otol 2009; 88: 524-527
  • 2 OʼMalley M, Haynes D. Sudden hearing loss. Otolaryngol Clin North Am 2008; 41: 633-649
  • 3 Laubert A. Therapie des akuten Tinnitus. In: Hesse G. Tinnitus. Stuttgart, New York: Thieme; 2008
  • 4 Meltser I, Canlon B. Protecting the auditory system with glucocorticoids. Hear Res 2011; 281: 47-55
  • 5 Tabuchi K, Nakamagoe M, Nishimura B et al. Protective effects of corticosteroids and neurosteroids on cochlear injury. Med Chem 2011; 7: 140-144
  • 6 Wei BP MS, OʼLeary S. Steroids for idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Cochrane Database Syst Rev 2006; 25 CD003998
  • 7 Wilson WR, Byl FM, Laird N. The efficacy of steroids in the treatment of idiopathic sudden hearing loss: A double-blind clinical study. Arch Otolaryngol 1980; 106: 772-776
  • 8 Nosrati-Zarenoe R, Hultcrantz E. Corticosteroid treatment of idiopathic sudden sensorineural hearing loss: randomized triple-blind placebo-controlled trial. Otology & Neurotology 2012; 33: 523-531
  • 9 Plontke SK, Biegner T, Kammerer B et al. Dexamethasone concentration gradients along scala tympani after application to the round window membrane. Otol Neurotol 2008; 29: 401-406
  • 10 Seggas I, Koltsidopoulos P, Bibas A et al. Intratympanic steroid therapy for sudden hearing loss: a review of the literature. Otology & Neurotology 2010; 32: 29-35
  • 11 Wu H, Chou Y, Yu S et al. Intratympanic steroid injections as a salvage treatment for sudden sensorineural hearing loss: a randomized, double-blind, placebo-controlled study. Otology & Neurotology 2011; 32: 774-779
  • 12 Battaglia A, Burchette R, Cueva R. Combination therapy (intratympanic dexamethasone + high-dose prednisone taper) for the treatment of idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Otol Neurotol 2008; 29: 453-460
  • 13 Garcia Callejo FJ, Velert Vila MM, Orts Alborch MH et al. Blood viscosity disorders as an etiopathological factor in sudden deafness. Acta Otorhinolaringol Esp 1997; 48: 517-522
  • 14 Zheng S, Jiang R, Fan M. Hemorheological disorders in patients with sudden deafness. Sheng Wu Yi Xue Gong Cheng Xue Za Zhi 1997; 14: 11-14 , 57
  • 15 Conlin AE, Parnes LS. Treatment of sudden sensorineural hearing loss. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 2007; 133: 573-586
  • 16 Wilson WR, Byl FM, Laird N. The efficacy of steroids in the treatment of idiopathic sudden hearing loss. A double-blind clinical study. Arch Otolaryngol 1980; 106: 772-776
  • 17 Dt. Ges. f. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Leitlinien Hörsturz. Anhang 1: Bewertung der „Evidenz“. Dezember 2002; AWMF-Leitlinien-Register Nr. 017/010
  • 18 Wei BP, Mubiru S, OʼLeary S. Steroids for idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Cochrane Database Syst Rev 2006; 25 CD003998
  • 19 Heiden C, Porzsolt F, Biesinger E et al. Die Spontanheilung des Hörsturzes. HNO 2000; 48: 621-623
  • 20 Golenhofen M. Tinnitusbehandlung mit komplementärer Medizin. München: Urban & Fischer; 2008: 108-118
  • 21 Rohrmeier C, Koemm N, Babilas P et al. Sudden sensorineural hearing loss: systemic steroid therapy and the risk of glucocorticoid-induced hyperglycemia. Eur Arch Otorhinolaryngol 2012; DOI: 10.1007/s00405-012-2134-0.
  • 22 Lewis DA. Steroid-induced psychiatric syndromes. A report of 14 cases and a review of the literature. J Affect Disord 1983; 5: 319-332
  • 23 Minoda R, Masuyama K, Habu K et al. Initial steroid hormone dose in the treatment of idiopathic sudden deafness. Am J Otol 2000; 21: 819-825