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DOI: 10.1055/s-0032-1328060
„Herr Doktor, mir sind meine Otolithen entsprungen“
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
17. Dezember 2012 (online)
So begrüßte mich kürzlich aufgeregt eine ältere Dame. Die Otolithen ließen sich schnell wieder „einfangen“, denn ich konnte ihr ein Blatt mit Übungsprogramm aus der zkm 6/2011 aushändigen, in der wir uns mit Schwindel beschäftigt hatten.
Heute geht um ein anderes schwieriges Thema: Tinnitus. Millionen sind betroffen – in Deutschland ca. 3 Mio. bzw. 4 % der gesamten Bevölkerung. In allen Industriestaaten sieht es ähnlich aus. Tendenz zunehmend, z. T. wegen der demografischen Entwicklung. Denn Tinnitus ist häufig Folge eines Hörverlustes und nimmt deshalb im Alter zu: Etwa 14 % der über 65-Jährigen klagten in einer Umfrage über beeinträchtigende Ohrgeräusche innerhalb der letzten 7 Tagen [1].
Aber das kann nicht der einzige Grund dafür sein, dass wir heute viel häufiger mit der Klage über Tinnitus konfrontiert sind als vor 30 Jahren. Möglich ist, dass die steigende Inzidenz und der steigende und häufigere Leidensdruck unserer Patienten einer der Tribute ist, den die Menschen in den Industriegesellschaften für Reichtum und wirtschaftlichen Erfolg zahlen müssen. Der Zwang, auf alles zu achten, auf jede Abweichung zu hören, immer zu funktionieren und alle Zeit bereit zu sein, hat alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen erfasst. Es scheint kaum noch möglich, sich dem Mehr! Schneller! Besser! zu entziehen. Laufend werden wir gemahnt, unsere Sinne zu schärfen und allzeit aufmerksam zu sein. Kein Wunder also, wenn unsere Patienten zunehmend an einer Überempfindlichkeit der Sinne leiden. Die Sinneswahrnehmung Hören kann nicht wie Sehen, Riechen und Schmecken abgeschaltet werden, auch im Schlaf nicht [2].
Bei der gegebenen Schwierigkeit der Tinnitus-Behandlung ist es ganz natürlich, dass dieses Heft Methoden verschiedener Richtungen berücksichtigt und Brücken schlägt zwischen orthodoxer („Schul-“) und Komplementärmedizin. So zeigen A. Szczepek und Kolleginnen in einem sehr anschaulichen Refresher, wie das Hören funktioniert und auf welchen Ebenen der Tinnitus entstehen kann. Weiter bieten wir zu meiner Freude ein Pro und Kontra zur Frage der Kortisonbehandlung bei akutem Hörsturz und Tinnitus, wobei letztlich die Autoren in ihrer Einschätzung nicht weit voneinander liegen.
Auch die Artikel von M. Sulejmanpasic zu Tinnitus und psychischer Belastung einerseits und von M.-P. Müller-Kortkamp zur Hyperbaren Sauerstofftherapie bei Tinnitus gehören nur bedingt in das Gebiet der Komplementärmedizin. Handelt es sich beim ersteren doch um anerkannte verhaltenstherapeutische Verfahren und die hyperbare Sauerstofftherapie hat nachvollziehbare physikalische Grundlagen.
Mit der Tinnitus-Retraining-Therapie zeigen Ch. Hellweg und G. Lux-Wellenhof Wege, auch in schwierigen Fällen entscheidend zu helfen. Einen innovativen Ansatz beschreitet K. H. Schroeder mit der Osteopathischen Behandlung von Ohrerkrankungen in einem interessanten und sehr reflektierten Aufsatz.
Natürlich darf bei diesem Thema die Akupunktur und Chinesische Arzneitherapie nicht fehlen. N. Klützke und J. Gleditsch zeigen, wie man es macht.
Wertvolle Tipps von 4 Fachleuten gibt es zur Alltagserkrankung Otitis media.
So gibt Ihnen dieses Heft viel Anregung, unseren geplagten Patienten Hilfe zu bieten und gleichzeitig den Widerspruch aufzulösen, dass wir sie zwar wegen des Tinnitus behandeln, aber andererseits ihnen raten müssen, so gut es geht das ganze Problem zu ignorieren im Sinne einer Defokussierung. Hier ist über alle Methoden und Kniffe hinweg echte ärztliche Kunst gefragt!
Ich wünsche Ihnen gesegnete Feiertage und einen guten Start in ein gelassenes, heiteres Jahr 2013.
- 1 Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Hrsg. Heft 29: Hörstörungen und Tinnitus. Berlin: RKI; 2006
- 2 Mehr zur Funktion des Ohres s. a. ZKM 1/2010, S. 13.