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DOI: 10.1055/s-0032-1330313
Buchbesprechungen
Publication History
Publication Date:
19 December 2012 (online)

Julia Reuter. Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bielefeld: transcript 2011 (Reihe: Gender Studies). 249 Seiten, EUR 25,80
Was verbindet muslimische Frauenorganisationen, transsexuelle Menschen, brustkrebsbetroffene Frauen und westeuropäische „Liebestouristinnen“? Sie alle eignen sich als empirische Felder, an denen sich ein bestimmter soziologischer Blick auf Körper und Geschlecht einüben lässt, wie die Lektüre des Buches „Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit“ von Julia Reuter nahelegt. Allerdings handelt es sich bei diesem Buch nicht um eine eigenständige Studie zum Thema, sondern um eine Zusammenstellung von Beiträgen, die die Autorin bereits an anderen Orten publiziert hat, und die nun unter der Klammer „Geschlecht und Körper“ neu angeordnet worden sind. Dieses Vorgehen hat Vor- und Nachteile: Zum einen bilden die im Buch präsentierten Beiträge eine interessante Vielfalt von Themen und theoretischen Perspektiven ab, zum anderen wirkt diese Vielfalt bisweilen auch ein wenig zufällig.
Zurück zu dem erwähnten soziologischen Blick: Es geht dabei um eine theoretische Perspektive, die man als sozialkonstruktivistisch, wissenssoziologisch und praxeologisch bezeichnen kann und deren Ziel es ist, gesellschaftliche Wirklichkeit als sowohl diskursiv vermittelte wie als durch und in (körperlichen) Praktiken und Institutionen realisierte zu beschreiben. Gerahmt wird diese Perspektive im vorliegenden Buch durch ein empirisch-theoretisches Interesse an der Bedeutung von Geschlecht und Körper für die Konstitution sozialer Wirklichkeit. Reuter selbst fasst den wissenssoziologischen Zusammenhang, um den es gehen soll, als Frage nach dem Verhältnis von Inszenierung und Materialität. Das Buch zeige, „wie Körper und Geschlecht als Materie und Idee die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit im privaten, öffentlichen und professionellen Alltag formen und durch sie geformt werden“ (S. 15).
Bei den insgesamt zehn Beiträgen, die den drei Schwerpunkten Körper-Fremdheit, Geschlecht-Identität, Migration-Ungleichheit zugeordnet sind, handelt es sich sowohl um theoretisch-konzeptuelle wie empirisch-deskriptive Studien, die mal stärker, mal weniger mit Fragen nach Geschlecht und/oder Körper verknüpft sind.
Insbesondere der erste Schwerpunkt zu Körper und Fremdheit stellt vor allem theoretische Beiträge vor, die mit unterschiedlichen Gewichtungen die Ebene des Körperlichen für eine Analyse des Sozialen hervorheben und dies über die Bezüge zu soziologischen Klassikern plausibilisieren. Der erste Aufsatz zeigt paradigmatisch an der ethnologischen Forschung auf, dass und wie dem Beobachten und Abbilden des Fremden eine Konstruktionsleistung zugrunde liegt, die die „VerAnderung“ (Othering) des Fremden erst bewirkt. Das Sehen und Beobachten des/der ForscherIn ist dabei als körperliche Praxis zu begreifen, die Erkenntnisse gewinnen lässt und dabei zutiefst vorstrukturiert ist von habitualisierten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Klassifikationsmustern. Diese Konstruktions- und Projektionsleistung lasse sich nicht ausschalten, so Reuter, sie müsse jedoch in einer Beobachtung zweiter Ordnung reflektiert werden, wenn man dem zu beforschenden Gegenstand gerecht werden und neue Erkenntnisse gewinnen möchte. So konstitutiv der sozialisierte Körper für die ethnographische Praxis ist, so grundlegend ist er es auch für die soziale Ordnung überhaupt, wie Reuter in weiteren Beiträgen verdeutlicht. Gerade durch seine Sichtbarkeit lassen sich an ihm nicht nur Prozesse von Fremdheit bzw. Othering, sondern auch Normalität und Abweichung als grundlegende Muster einer körperbasierten Interaktionsordnung begreifen. Wichtiger Stichwortgeber für diese Perspektive auf Gesellschaft ist der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman. Im letzten Aufsatz dieses Kapitels arbeitet Reuter in Bezug auf Goffman und Judith Butler heraus, dass körperliche Praxen soziale Ordnung nicht nur stabilisieren, sondern aufgrund ihrer Eigensinnigkeit auch destabilisieren können.
Im zweiten thematischen Schwerpunkt geht es um den Zusammenhang von Geschlecht, Identität und sozialer Praxis. Ein Beitrag stellt ein Forschungsprojekt vor, das den Einfluss der Brustkrebs-Diagnose auf die Geschlechtsidentität der Betroffenen untersuchte und dabei vor allem den Umgang der Frauen mit ihrem „kranken“ Körper fokussierte. Hier zeigte sich, dass die betroffenen Frauen sich durch die Diagnose nicht nur hinsichtlich der gefährdeten Gesundheit, sondern auch in ihrer Geschlechtsidentität bedroht fühlten. Die Krankheit hat somit eine gewichtige geschlechtsspezifische Dimension. Eine Bewältigungsstrategie der befragten Frauen besteht darin, selbst zur informierten Expertin der eigenen Krankheit zu werden. Der eigene vergeschlechtlichte Körper steht auch im Zentrum des Beitrags zum Thema Transsexualismus. Reuter führt hier aus, dass und wie der transsexuelle Mensch eine Herausforderung für die binäre Geschlechterordnung darstellt. Gerade die körperliche Verankerung des Wissens, im „falschen“ Geschlecht sozialisiert worden zu sein, stellt die für die soziale Ordnung voraussetzungsvolle Trennung von Natur und Kultur auf den Kopf. Ähnlich wie der/die Fremde ist der transsexuelle Mensch ein hybrider Grenzgänger, der nicht zwischen national codierten kulturellen Räumen, sondern zwischen als natürlich codierten kulturellen Sphären hin- und herwandert und dabei die Grenzsetzung selbst problematisiert.
Die Beiträge des dritten Schwerpunkts diskutieren vor allem die Grenzüberschreitungen nationaler Räume, die die jeweiligen kulturellen Geschlechterordnungen stabilisieren oder auch transformieren. Thematisch geht es dabei um den Zusammenhang von Globalisierung und sozialer Ungleichheit. Im ersten Beitrag kontrastiert Reuter zwei unterschiedliche Gruppen: „Liebestouristinnen“ auf ihrer Reise von Nordwest nach Südost und Haushaltsmigrantinnen auf ihrer Reise von Südost nach Nordwest. An der ersten Gruppe soll am Beispiel Indonesien verdeutlicht werden, dass in der Begegnung der Touristinnen mit den einheimischen Männern Beziehungen geknüpft werden, die über eine patriarchale und koloniale Beziehung hinausweisen. Das andere Beispiel hingegen zeigt, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung mittlerweile global verlängert wird. Wohlhabende Familien im Westen delegieren die Haushaltsarbeit an migrantische Haushaltshilfen, die ihrerseits ihre Familien verlassen haben, um das Familieneinkommen aufzubessern. Während diese Frauen in ihrem Herkunftsland den Status des breadwinners innehaben, können in den westlichen Ländern Frauen ebenfalls die private Sphäre verlassen und erwerbstätig sein – aber eben auf Kosten dieser neuen „Dienstmädchen“. Das Phänomen der „weltweiten Fürsorge-Ketten“, das seit ein paar Jahren verschiedentlich beforscht wird, ist sowohl Ausdruck einer sich verändernden Geschlechterordnung wie zugleich deren Zementierung, dadurch dass Hausarbeit „weiblich“ bleibt, weiterhin wenig Anerkennung bekommt, und darüber hinaus durch ihre Realisierung in zunehmend informellen Strukturen unsichtbar gemacht wird. Reuter möchte an diesen beiden Beispielen zeigen, dass sowohl vergeschlechtlichte wie kulturelle Grenzen erschüttert werden. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kreolisierung der Geschlechter“ und meint damit, „dass Weiblichkeits- und Männlichkeitsmuster und -praktiken im Zeitalter der Globalisierung durch unterschiedliche kulturelle Kontexte geprägt sind (S. 182). Diese Argumentation vermag jedoch nicht ganz zu überzeugen, zumal ja beide Gruppen Ausdruck einer kolonialen Vorgeschichte sind, von der aber nur die eine profitiert hat. Diese Asymmetrie wird zu wenig systematisch reflektiert. Eine ausführlichere und differenzierte Betrachtung insbesondere des Phänomens „Liebestourismus“ wäre hier wünschenswert gewesen, gerade auch um die Komplexität des Phänomens zu verdeutlichen.
Im letzten Beitrag geht es um die Selbstorganisation von Migrantinnen. Eine empirische Studie verschiedener in Deutschland ansässiger muslimischer Frauenorganisationen macht auf einen wichtigen blinden Fleck in der öffentlichen Debatte aufmerksam: Das Phänomen eines islamischen Feminismus, mit dem die Aneignung des Islam durch junge Frauen auch als bewusste und moderne Variante der Identitätsbildung zu verstehen ist.
Wer unter der Überschrift Geschlecht und Körper eine systematische Studie zum Thema bzw. zum Verhältnis von Inszenierung und Materialität, wie der Untertitel verspricht, erwartet, wird enttäuscht sein, da es sich um eine Aufsatzsammlung handelt, die unterschiedliche Aspekte des Themas behandeln. Davon abgesehen bietet der Band jedoch Einblick in interessante Themen und stellt diese unter einer aufschlussreichen theoretischen Perspektive dar. Deutlich wird allemal, dass sowohl Geschlecht wie auch die Körper zentrale Kategorien sind, will man die soziale Wirklichkeit in all ihren Facetten adäquat beschreiben.
Imke Schmincke (München)