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DOI: 10.1055/s-0033-1347955
„Rätsel Frontalhirn“
Publication History
Publication Date:
12 June 2013 (online)
Die Faszination des „Rätsels Frontalhirn“ hat zwei Ursprünge: Zum einen wird das Frontalhirn wie keine andere kortikale Struktur mit Fähigkeiten in Verbindung gebracht, die als spezifisch menschlich gelten, wie das schlussfolgernde Denken, das vorausschauende Planen sowie die Fähigkeiten zur Selbstbewusstheit und zu Mitgefühl und Empathie. Zum anderen kann eine Schädigung des Frontalhirns beim Menschen zu einem komplexen, häufig irritierenden Störungsbild führen, dem sogenannten Frontalhirnsyndrom, das die Funktionsfähigkeit im Alltag stark einschränkt und zur Veränderung der Person im Verhalten und Erleben führen kann.
Beispielhaft hierfür ist noch immer der Fall des Phineas Gage, der 1848 als Vorarbeiter beim transamerikanischen Eisenbahnbau eine Sprengverletzung erlitt, bei dem ihm eine 5,9 kg schwere, über 1 m lange und 3,2 cm dicke Eisenstange Kiefer und Kalotte durchschlug und dabei mediale Anteile vor allem des linken Frontallappens zerstörte. Der 25-Jährige überlebte die schwere Verletzung wie durch ein Wunder, doch zeigten sich in der Zeit nach dem Unfall auffällige Persönlichkeitsveränderungen: War er vorher an seiner Arbeitsstelle als verlässlich und besonnen geschätzt, verhielt er sich nun launisch, jähzornig und streitsüchtig. Phineas Gage funktionierte in seiner Position und seiner Funktion in der Gesellschaft nicht mehr richtig – eine schwere Störung der psychosozialen Anpassung. „Gage war nicht mehr Gage“, wie sein behandelnder Arzt, Dr. J. M. Harlow, in seinem Fallbericht ausführte, der wohl ersten ausführlichen Beschreibung einer Persönlichkeitsveränderung infolge einer traumatischen Frontalhirnläsion.
Persönlichkeitsveränderungen nach einem Frontalhirnschaden sind sowohl für Betroffene als auch Angehörige schwer zu verstehen. Konflikte im Alltag sind oft unausweichlich.
Solche Persönlichkeitsveränderungen wie in dem Beispiel von Phineas Gage sind sowohl für den Betroffenen als auch für die Angehörigen schwer verstehbar und führen im Alltag zu Belastungen und Konflikten mit dem sozialen Umfeld. Auch in der therapeutischen Situation erscheinen solche Patienten oft als „schwierig“. Mit dem vorliegenden Heft wollen wir versuchen, uns dieser komplexen Materie zu nähern und sie für Therapeuten besser verständlich zu machen.
Eine Einführung gibt der Beitrag von Thomas Jahn, Claudia Wendel und Hans Förstl. Das Autorenteam bietet Ihnen eine Beschreibung der funktionellen Architektur des Frontalhirns mit seinen neuroanatomischen Verbindungen zu nahezu allen Strukturen des Großhirns, seiner neuroanatomischen Untergliederungen sowie der neuronalen Regelkreise, die Grundlage der kognitiven Leistungen des Frontalhirns sind. Daran schließt sich eine differenzierte Darstellung der neuropsychologischen Konzepte und Theorien zum Frontalhirn an, in der der aktuelle Stand der Wissenschaft diskutiert und auch durchaus divergente Sichten und Standpunkte präsentiert werden. Einen klar gegliederten Überblick über die neuropsychologischen Funktionen des Frontalhirns und die vielfältigen Formen von Funktionsstörungen nach einer strukturellen Schädigung gibt der Beitrag von Thomas Göhringer. Er beschreibt auch das Instrumentarium und die Verfahren, mit denen Neuropsychologen die Frontalhirnfunktionen untersuchen und beschreiben können. Dabei unterzieht er die Testverfahren einer kritischen Bewertung – inwieweit diese dem Anspruch, „frontale“ Leistungen zu messen, gerecht werden. Über die Rolle des Frontalhirns für die Steuerung von Verhalten und über die vielfältigen klinischen Erscheinungsformen, die nach einer Frontalhirnschädigung auftreten können, berichtet der Beitrag von Wolfgang Fries. Sigrid Seiler fasst im Anschluss die Möglichkeiten der therapeutischen Interventionen nach einer Frontalhirnschädigung anschaulich zusammen. Sie führt aus, wie sich frontale Funktionsstörungen im Alltag auswirken und welche therapeutischen Interventionen mit welcher Methodik zur Verfügung stehen – aber auch, mit welchen Herausforderungen Therapeuten konfrontiert sind. Ihre Darstellungen werden anschaulich mit Beispielen aus der klinischen Praxis illustriert. Und schließlich rundet das lebendige Beispiel eines betroffenen Patienten mit kurzem Herausgeberkommentar zum seltenen „Alien-Hand-Syndrom“ das Heft ab.
Indem wir versuchen, menschliche Wesensart und menschliches Verhalten aus seiner Struktur und Funktion zu verstehen, ist die Beschäftigung mit dem Frontalhirn auch wie ein Blick in den Spiegel.
Uns ist bewusst, dass wir die Komplexität des Gegenstandes in einem einzelnen Heft nicht annähernd erschöpfend abhandeln können. Immerhin füllt das Thema „Frontalhirn“ normalerweise umfangreiche Standardlehrbücher. Zur Vertiefung möchten wir daher noch die Werke von Donald Stuss und Frank Benton sowie von Hans Förstl empfehlen [1], [2].
Wir wünschen Ihnen eine fruchtbare, an Informationen reiche Lektüre, die helfen soll, die Patienten, die von solchen Schädigungen betroffen sind, besser verstehen zu können.
Ihre drei Herausgeber
Susanna Freivogel
Jan Mehrholz
Wolfgang Fries
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Literatur
- 1 Förstl H Hrsg. Frontalhirn. Funktionen und Erkrankungen. 2. Aufl. Berlin: Springer; 2005
- 2 Stuss DT, Benson DF. The Frontal Lobes. Lippincott: Williams and Wilkins; 1986