Z Sex Forsch 2013; 26(3): 276-281
DOI: 10.1055/s-0033-1350483
Nachruf
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Virginia E. Johnson (1925 – 2013)

Volkmar Sigusch
Further Information

Publication History

Publication Date:
16 September 2013 (online)

Welche Sexualforscher sind gebildeten US-Amerikaner bekannt? Von den europäischen kennen sie Freud und Krafft-Ebing und, wenn es hoch kommt, auch noch Havelock Ellis. Und von den eigenen kennen sie Kinsey und Masters/Johnson und wenn es hoch kommt, auch noch Albert Ellis und Nancy Friday. Virginia E. Johnson, die Partnerin des Gynäkologen William H. Masters ist also eine berühmte Forscherin. Das ist besonders bemerkenswert, weil sie nie einen akademischen Grad erworben hat.

Geboren wurde sie als Mary Virginia Eshelman am 11. Februar 1925 in Springfield, Missouri, als Kind einer Farmerfamilie. Nach der Schule soll sie Klavier und Gesang studiert haben. 1941 kam sie auf das Drury College in Springfield. Nach ihrem Freshman Year arbeitete sie vier Jahre lang im State Insurance Office und trat als Country Music Singer auf. Viele Auftritte vermittelte ihre Mutter, eine State Committee Woman der republikanischen Partei. Später durfte sie auch regelmäßig unter dem Künstlernamen Virginia Gibson im Radiosender KWTO in Springfield auftreten. Parallel studierte sie an der University of Missouri und am Kansas City Conservatory of Music. Von 1947 an arbeitete sie als Business Writer für den „Daily Record“ in St. Louis sowie im Marketing Staff von KMOX-TV. 1956 suchte sie an der Washington University einen Job und traf auf Masters, der gerade für seine Sex-Experimente eine Assistentin suchte.

Der Gynäkologe William H. Masters, geboren am 27. Dezember 1915 in Cleveland, Ohio, war von 1947 an Instructor an der School of Medicine der Washington University, dann Assistant Professor und schließlich Associate Professor für Clinical Obstetrics & Gynecology. Zunächst ganz unauffällig, packte ihn im Alter von 38 Jahren eine Wissgier, die endlich in Erfahrung bringen wollte, was bei einer sexuellen Betätigung körperlich geschieht, insbesondere wie der Orgasmus der Frau beschaffen ist. Zuvor soll Masters in Bordelle und Peepshows gegangen sein, um das Rätsel zu lösen. Dann aber, im Jahr 1954, wagte er eine solche Forschung an der Universität eines in sexuellen Dingen prüd-bigotten Landes. War diese heikle Forschung zunächst noch mit der Division of Reproductive Biology seiner Heimatuniversität verbunden, nahm er sie ab 1964 über eine „non-profit Reproductive Biology Research Foundation“ in St. Louis selbst in die Hand. 1973 ging dann aus dieser Einrichtung das „Masters & Johnson Institute“ hervor, das 1981 in St. Louis ein neues Quartier bezog und 25 Mitarbeiter beschäftigte.

Virginia E. Johnson stellte Masters im Januar 1957 ein, um Gespräche mit Prostituierten zu führen, die zunächst als Versuchspersonen dienen sollten. Offenbar machte sie das sehr gut und vermittelte dem großen Forscher jenseits der medizinischen Fachsprache als eine nach Recherchen von Journalisten sexuell sehr erfahrene Frau, was manfrau wie und was manfrau gar nicht bei den Experimenten im Labor machen sollte. Viele Jahre später trennte sich Masters von seiner ersten Ehefrau und heiratete im Januar 1971 Virginia Johnson, die zuvor dreimal verheiratet war. Anfang der 1940er Jahre hatte sie einen Landespolitiker geheiratet, mit dem die Ehe nur zwei Tage hielt. Später heiratete sie einen sehr viel älteren Anwalt, von dem sie auch geschieden wurde. Im Juni 1950 ging sie die Ehe mit George V. Johnson, einem Ingenieur-Studenten und Bandleader, ein. Mit dessen Tanzorchester trat sie als Sängerin auf, und mit ihm hatte sie auch zwei Kinder: Scott Forstall, geboren 1952, und Lisa Evans, geboren 1955. Nach sechs Jahren wurde auch diese Ehe geschieden. Die Ehe mit Masters hielt nach außen bis zum Februar 1992, als die ein Jahr später vollzogene Scheidung öffentlich mitgeteilt wurde.

Von 1969 bis 1992 war Johnson an der Leitung der von Masters oder von beiden zusammen gegründeten Einrichtungen beteiligt. Obgleich sie keinen akademischen Titel erworben (vgl. z. B. Encyclopædia Britannica 2008; Maier 2009) und offenbar auch eigentlich notwendige Vorlesungen nur am Rande gehört hatte, wurde sie in Fachgesellschaften wie American Association for Advancement of Science (AAAS), Sex Information and Education Council of the United States (SIECUS) und Society for Sex Therapy and Research (SSTAR) als Mitglied aufgenommen und sogar zweimal mit dem akademischen Grad Doctor of Science (D.Sc.) geehrt. Natürlich wurde auch Masters in viele angesehene Fachgesellschaften aufgenommen oder berufen, darunter die New York Academy of Sciences. Außerdem gründete er, angeregt von Richard Green, dem Herausgeber der Archives of Sexual Behavior, Anfang der 1970er-Jahre zusammen mit dem Kinsey-Nachfolger Paul Gebhard, dem klinische Psychologen John Money und den deutschen Sexualforschern Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch die heute noch aktive International Academy of Sex Research (IASR). Zur ersten Schatzmeisterin berufen wurde Virginia Johnson. Sie blieb es für ein Jahr.

Zwei Werke von Masters und Johnson haben auch die westdeutsche Sexualforschung nachweislich beeinflusst und provoziert. Zunächst, 1966, „Human Sexual Response“. Elf Jahre lang hatten Masters und Johnson Männer und Frauen in Laboratorien koitieren und masturbieren lassen, um dabei mit recht einfachen Instrumenten die Reaktionen von Herz, Kreislauf und Atmung sowie die sichtbaren Veränderungen des Körpers, insbesondere der Genitalien, zu beobachten und zu messen. Neu war der so genannte artifizielle Koitus, der mittels eines Penis aus Plastik vollzogen wurde, der ein optisches System enthielt, das das Innere der Scheide farblich aufnehmen konnte. Nach Vorversuchen mit männlichen und weiblichen Prostituierten waren zur Überraschung von Masters 694 ganz normale Leute, 312 Männer und 382 Frauen, freiwillig bereit, an den Experimenten teilzunehmen. Sie waren 18 bis 89 Jahre alt, hatten alle vorher schon einen Orgasmus erlebt und kamen ganz überwiegend aus weißen, überdurchschnittlich gebildeten sozialen Schichten, konnten also als Stichprobe nicht für die US-amerikanische Gesamtbevölkerung repräsentativ sein.

Ein Jahr später brachten wir das in einer uninspirierten Labor-Sprache verfasste Werk, das inzwischen die Bestsellerliste der New York Times erobert hatte, unter dem Titel „Die sexuelle Reaktion“ heraus, darum bemüht, Fehler und Ungereimtheiten zu beseitigen. Gunter Schmidt hatte Virginia Johnson schon 1967 im Kinsey-Institut kennengelernt. Sie sei zu dem jungen Mann aus Germany überaus freundlich gewesen. Das Forscher-Couple Masters/Johnson haben wir dann zusammen erlebt, als wir auf Einladung der American Psychopathological Association (APPA) im Februar 1971 in New York den Vortrag „Woman´s Sexual Arousal” hielten (Schmidt und Sigusch 1973), in dem wir aufgrund von Experimenten Kinsey et al. (1953) widersprachen. Das Couple Masters/Johnson trat auf dem Kongress natürlich als Couple auf: Er begann zu reden, nach einigen Minuten trat er zurück und sagte zur neben ihm stehenden Virginia: „Please continue, Gini”. Virginia ihrerseits trat nach einigen Minuten zurück und sagte: „It's your turn, Bill”, und so weiter eine Stunde lang zum entsetzten Vergnügen der Forscher aus aller Welt.

Unter dem Druck von Paul Gebhard und John Money wurde uns auf der Tagung eine Audienz von Masters und Johnson in St. Louis zugesagt. Als wir wegen eines Blizzard über Buffalo verspätet in ihrem Institut eintrafen, steckte Virginia Johnson dort gerade Gardinen auf und war zu uns sehr freundlich, ganz im Gegensatz zu Masters, der auf keine unserer Fachfragen antwortete. Der große Forscher zeigte vielmehr als Antwort mit stark schielendem Glasauge hinter sich. Dort standen bereits mehrere Übersetzungen von „Human Sexual Response“. So war es uns nicht möglich, unübliche oder vage Termini wie „Vasokongestion“ und „Myotonie“ erhellend zu ersetzen, weil die damit bezeichneten Vorgänge nicht exakter zu fassen waren. Reaktionen, die unterschiedlich benannt worden sind, haben wir durchgehend mit dem Terminus belegt, der uns am sinnvollsten erschien. Und zur Bezeichnung einiger Reaktionen musste ich neue Termini einführen, zum Beispiel „orgastische Manschette“ und „Status orgasticus“, die heute im Brockhaus stehen. Was grundsätzlich an ihrer Forschung zu kritisieren war und ist, kann andernorts nachgelesen werden (vgl. z. B. Sigusch 1970a und b, 2009; Tiefer 1991, 1995).

Das zweite Werk von Masters und Johnson, das uns sehr interessierte, erschien 1970, heißt „Human Sexual Inadequacy“ und präsentierte eine Paartherapie. Auch in diesem Fall bestachen weder die Methodik der Studie noch die theoretischen Versuche der Autoren. Es beeindruckten uns erneut Schlichtheit und Ergebnis. Schließlich war damals die sexualtherapeutische Lage katastrophal schlecht. Bei so genannten funktionellen Sexualstörungen verfügten weder Somatotherapeuten über wirksame Medikamente noch Psychotherapeuten über geeignete Therapieverfahren. Die Erfolgsrate von Masters und Johnson betrug bei mehr als 500 behandelten Paaren rund 80 Prozent. Die Rückfallquote betrug fünf Jahre nach Abschluss einer erfolgreichen Therapie bei mehr als 300 Paaren rund 5 Prozent. Von diesen Erfolgen einer Therapie träumten wir. Folglich begannen wir sofort, das Buch zu übersetzen, wissenschaftlich zu bearbeiten und die neue Methode in die Praxis umzusetzen. Die ersten Therapeuten-Paare bildeten Roswitha Bulla, Gunter Schmidt, Karin Schoof-Tams, Eberhard Schorsch, Volkmar Sigusch und Eva-Marie Ziegenrücker (vgl. Schoof-Tams et al. 1972). Die deutsche Ausgabe des Buches erschien 1973 unter dem Titel „Impotenz und Anorgasmie. Zur Therapie funktioneller Sexualstörungen“.

In einem umfangreichen Projekt des Hamburger Instituts für Sexualforschung, gefördert von der DFG, wurde schließlich das Verfahren durchleuchtet, kontrolliert, theoretisch begründet, an die hiesigen kulturellen Verhältnisse angepasst und mit dem Stück Psychologie des Unbewussten und des Paarkonflikts versehen, das unverzichtbar schien (vgl. vor allem Arentewicz und Schmidt 1980/1986/1993, Schmidt 1996/2001; Hauch 2006; Hauch et al. 2007). Herausgekommen ist durch die Erweiterungen, die die Hamburger vorgenommen haben, ein gelungenes Beispiel für den Versuch, zwei große therapeutische Schulen zu integrieren: einerseits Verhaltenstherapie, die Masters und Johnson mehr oder weniger unreflektiert angewandt hatten, und andererseits Psychoanalyse, deren Vertreter bei uns zu borniert waren, sich auf sogenannte funktionelle und dazu auch noch sexuelle Störungen einzulassen.

Obgleich die Erfolgsraten, die Masters und Johnson erreicht hatten, international von niemandem bestätigt werden konnten, waren doch die meisten von ihnen ermutigten Forscher sehr zufrieden (zur Kritik vgl. z. B. Schoof-Tams 1975). Denn Erfolge stellten sich nach vielen Studien bei zwei Dritteln bis drei Vierteln der behandelten Paare ein. Und das, obgleich die Erfolge strikter kontrolliert und zunehmend Störungen wie die sexuelle Lustlosigkeit geklagt wurden, die schwer zu behandeln sind. Außerdem wurden nicht mehr eher unaufgeklärte und unerfahrene Patienten aus einer ländlichen Region behandelt, denen allein schon durch Informationen und Übungen geholfen werden konnte, wie es offensichtlich bei Masters und Johnson nicht selten der Fall war.

Bedauerlicherweise haben Masters und Johnson mit zwei späteren Werken ihre anfängliche wissenschaftliche Reputation erheblich geschmälert. 1979 behaupteten sie in „Homosexuality in Perspective“, sie könnten mit ihrer Paartherapie auch Homosexuelle innerhalb weniger Wochen „heilen“. Ihre „Theorie“ lautete: Homosexualität sei nicht genetisch, nicht körperlich und auch nicht emotional bedingt, sondern erlernt, könne also mit Willensanstrengung auch wieder verlernt werden. 1988 schließlich verloren die Rationalisten jeden vernünftigen Halt. In dem AIDS-Buch „Crisis”, das sie zusammen mit ihrem langjährigen Mitarbeiter Robert C. Kolodny verfasst haben, sahen sie das Virus auf breiter Front in die heterosexuelle Bevölkerung einbrechen, schlossen weder eine Ansteckung durch Mückenstich noch auf einem Toilettensitz aus, verlangten drastische staatliche Maßnahmen, Meldepflichten, Zwangstestungen usw., verbreiteten Hysterie statt solider Forschungsergebnisse. Gunter Schmidt (1988: 179) kam damals in dieser Zeitschrift zu dem Schluss: „An keiner Stelle hinterfragen die Sexualforscher, was ihre Ratschläge für die Sexualität bedeuten. Sie sehen darin offenbar kein Problem, weil alles so pragmatisch und vernünftig ist. Und insofern liegt dieses Buch durchaus auf einer Linie mit ‚Human Sexual Response’ (1966) und ‚Human Sexual Inadequacy’ (1970): Es geht um die rationale Steuerung der Sexualität bis hin zum Irrwitz […], bis sie wieder, wie wir jetzt sehen, vor lauter Kognition im Morast irrationaler Ängste versinkt, die nur durch drakonische Ver- und Gebote gebannt werden können. Masters und Johnson haben die Konflikte, die Menschen mit ihrer Sexualität haben, nie verstanden. Den Verdacht konnte man lange haben; nun ist diese Einsicht unausweichlich“.

Trotz aller Kritik seien ihre Verdienste nicht vergessen. Sie haben wie ihr Vorgänger Alfred C. Kinsey etliche Sex-Mythen im Kern zerstört, beispielsweise, dass Frauen weniger sexuell erregbar seien als Männer oder dass bei Frauen der vaginale Orgasmus „reifer“ sei als der klitoridale, wie nicht Freud, aber seine unkritischen Nachläufer zum Teil bis heute behaupten. Nicht vergessen sei auch, dass sie uns durch ihr schlichtes Vorpreschen eine solide, überaus erfolgreiche Paartherapie beschert haben, die unter dem Namen „Hamburger Modell“ den besten Ruf genießt.

Soviel in Kürze zu Masters/Johnson. Jetzt sind beide tot. William Howell Masters starb bereits am 16. Februar 2001 im Alter von 85 Jahren, und Virginia Eshelman Johnson Masters starb am 24. Juli 2013 im Alter von 88 Jahren. Zusammen haben Masters/Johnson in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Sexualwissenschaft weltweit angeregt und am Ende des Jahrhunderts die kritische enttäuscht.