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DOI: 10.1055/s-0033-1350661
Strabismus deorsoadductorius bei kontralateraler Obliquus-superior-Hypoplasie
Downshoot in Adduction in a Case of Contralateral Superior Oblique HypoplasiaPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
21. Oktober 2013 (online)
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Eine 28-jährige Patientin stellte sich wegen zunehmender Sehstörungen am Arbeitsplatz vor, wo sie mehrere Monitore beachten müsste. Sie hätte schon als Kind geschielt. Ihr linkes Auge weiche im Linksblick gern nach „außen“ ab, dann sähe sie doppelt. Das Ausgleichen des Schielens wäre anstrengend, sie hätte dadurch Kopfschmerzen. Schon im Gespräch fiel ein zeitweiliger Höherstand des linken Auges auf. Wir erhoben folgende Befunde:
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Refraktion in Zykloplegie: RA − 0,5 dpt, LA + 1,5 dpt
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Visus: RA 1,25, LA 1,0
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Vordere und hintere Augenabschnitte: regelrecht
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Binokularsehen: Bagolini mit Zentralsuppression und vertikaler Einstellbewegung
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Exkursion: RA Hebung in Adduktion bis 30°, LA Senkung bis 40°, sonst frei
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Prismenabdecktest: RF − 9° − VD18°, LF − 16° − VD14° (VD = Vertikaldeviation)
Die subjektiven Schielwinkel sind in [Abb. 1] dargestellt.
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Fixationswechsel-Test: kaum bzw. keine dissoziierte Komponente vertikal bzw. horizontal
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Kopfneigephänomen: 14° (Rechtsneigung − VD13°, Linksneigung − VD27°)
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subjektive Horizontale: einwärts verkippt, RA 6°, LA 1°
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retinale Zykloposition (OCT): RA 4° Inzyklo (atypisch), LA 8° Exzyklo (im Normbereich)
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Fusionsblickfeld: Fusion (Bagolini-Lichtschweifkontrolle) im Geradeaus- und Rechtsblick. Im Linksblick Diplopie oder Suppression
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kompensatorische Kopfhaltung: 15° Linksdrehung
Das Schielwinkelmuster auf der sensorischen Basis eines vertikalen Mikrostrabismus entsprach also einem Strabismus deorsoadductorius rechts, mit im Linksblick zunehmendem relativen Tieferstand des RA, Inzyklodeviation, deutlicher A-Inkomitanz, aber in diesem Maß untypischem Kopfneigephänomen. Bei der Kontrolle nach 3 Tagen diagnostischer Okklusion waren die Schielwinkel ähnlich.
Das MRT zeigte eine Verdickung des rechten und eine Hypoplasie des linken M. obliquus superior ([Abb. 2]). Diese Konstellation, oft kombiniert mit einer Aplasie des N. trochlearis, ist beim linksseitigen Strabismus sursoadductorius (engl.: congenital superior oblique palsy) nicht selten [1]. Sie ist auch den möglichen Ursachen eines Strabismus deorsoadductorius [2] hinzuzufügen. Im vorliegenden Fall wären der zunehmende Tieferstand und das Hebungsdefizit im Linksblick durch eine erhöhte Rigidität des rechten M. obliquus superior erklärbar. Erklärungen der Inzyklotropie durch eine vermehrte Innervation des rechten M. obliquus superior, möglicherweise infolge einer zentralen Kreuzungsstörung (axonal misguidance), die auch die Hypoplasie des linken N. trochlearis und M. obliquus superior bedingt hat, ebenso wie des Senkungsdefizits des LA durch fehlende Kraft des M. obliquus superior, adaptive Innervationsänderungen oder Rigidität des M. rectus superior [3] sind hypothetisch. Die große VD scheint jedoch durch eine verstärkte Innervation des linken M. rectus superior mit bedingt zu sein. Von seiner Rücklagerung wäre dann ein deutlicher Effekt zu erwarten. Ihr Wirkprofil entspräche auch der horizontalen Inkomitanz der VD und dem Kopfneigephänomen. Eine Überkorrektion im Aufblick wäre hinnehmbar, im Rechtsblick aber unerwünscht. Da die Patientin mehr als 13° VD gut kompensieren konnte, müsste eine Halbierung der maximalen VD genügen, um das Fusionsblickfeld signifikant nach links zu erweitern. Aufgrund dieser Überlegungen wurde der linke M. rectus superior, ohne weitere Maßnahmen an der schlaffen Obliquussehne, 4 mm rückgelagert. Der Effekt war ausreichend, das Fusionsblickfeld war nach wenigen Tagen um 20° nach links vergrößert und nach 8 Monaten, wie auch das Schielwinkelmuster, gleichbleibend ([Abb. 3]). Die Patientin war durch die erst ab 20° Linksblick ([Abb. 4]) auftretende Diplopie kaum gestört. Sie wünschte keinen weiteren Eingriff.
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Bei Bedarf wäre in erster Linie an eine geringe weitere Rücklagerung des linken M. rectus superior zu denken, von der allerdings wenig Effekt im Abblick zu erwarten wäre, oder an eine Schwächung des rechten M. obliquus superior, um die horizontale und vertikale Inkomitanz der VD, die Inzyklotropie und die A-Inkomitanz zu vermindern. Auch sie wäre niedrig zu dosieren, ein Übereffekt würde eine Exzyklotropie bewirken wie bei einer beidseitigen Trochlearisparese.
Der Fall zeigt, dass bei ungewöhnlichen Augenbewegungsstörungen schon eine einfache bildgebende Untersuchung ohne funktionell-morphometrische Analyse [4] wesentlich zur Diagnose und Operationsplanung beitragen kann. Der Fall zeigt, dass die Rücklagerung eines in der Abweichphase stark innervierten vertikalen M. rectus speziell bei Schielformen mit großer vertikaler Fusionsbreite sehr wirkungsvoll sein kann (hier > 2°/mm; bis > 4°/mm sind möglich). Beabsichtigt war die Reduktion der Abweichung auf einen gut verträglichen Restwinkel. Da der Effekt in derartigen Fällen nur grob kalkulierbar ist, wurde niedrig dosiert. Eine zu geringe Wirkung wäre unproblematisch. Sie brächte bereits eine Verbesserung und könnte bei Bedarf verstärkt werden. Eine Überkorrektion wäre dagegen unangenehm, sie erfordert eine Ausgleichsinnervation, die in diese Richtung nicht etabliert und eventuell nicht möglich ist.
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Literatur
- 1 Uchiyama E, Matsuo T, Imai S et al. Paretic side/normal side ratios of cross-sectional areas of the superior oblique muscle vary largely in idiopathic superior oblique palsy. Am J Ophthalmol 2010; 149: 508-512
- 2 Gräf M, Lorenz B. Pathophysiologie und Therapie des Strabismus deorsoadductorius. Zeitschr prakt Augenheilkd 2009; 30: 345-354
- 3 Jampolsky A. Superior rectus revisited. Trans Am Ophthalmol Soc 1981; 79: 243-256
- 4 Demer JL, Miller JM, Koo EY et al. Quantitative magnetic resonance morphometry of extraocular muscles: a new diagnostic tool in paralytic strabismus. J Pediatr Ophthalmol Strabismus 1994; 31: 177-188