PPH 2013; 19(04): 224-225
DOI: 10.1055/s-0033-1351370
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Für Sie gelesen: Aktuelle Pflegeliteratur
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lehrbuch Psychiatrische Pflege

Contributor(s):
Christoph Müller
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Publication History

Publication Date:
24 July 2013 (online)

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(Verlag Hans Huber)

Für die einen ist es die „rote Bibel“. Andere nennen es „das Standardwerk überhaupt“. Die Lorbeeren für das „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“, das bereits in der dritten Auflage erschienen ist, sind zahlreich. Umso kritischer ist die Frage zu stellen, ob das Grundlagenwerk diese Ehren wirklich verdient hat. Grundsätzlich ist mit einem deutlichen „Ja“ zu antworten. Denn was das „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ wirklich schafft, ist die Treue zu einem gewissen Quantensprung.

Die Autoren um das namhafte Herausgeberquartett fühlen sich den Pflegekonzepten verpflichtet. Damit rücken sie nicht nur konsequent von der Symptom- und Krankheitssicht der meisten Lehrbücher zur Psychiatrischen Pflege ab. Sauter sowie ihre zahlreichen Mitstreiter eröffnen mit der Orientierung an den Pflegekonzepten vor allem Spiel- und Gestaltungsräume.

Diesen Weg müssen die psychiatrisch-pflegerischen Praktiker vor Ort natürlich mitgehen. Sie müssen in die psychiatrisch-pflegerische Praxis übersetzen, was die Autoren des „Lehrbuchs Psychiatrische Pflege“ theoretisch zugrunde legen. Psychiatrisch-pflegerische Praktiker haben die Möglichkeit, in ihre jeweilige Praxis zu transformieren, was Alltagsorientierung und Normalitätsprinzip, Milieugestaltung und Gruppenarbeit, Hoffnung und Humor bedeuten können. Die Autoren arbeiten sich nicht nur an den unzähligen Erkenntnissen der zeitgenössischen Pflegewissenschaft ab. Mit einem dialektisch-dialogischen Grundverständnis nutzen sie die Ergebnisse vieler anderer Wissenschaften.

Beeindruckend an der dritten Auflage des „Lehrbuchs Psychiatrische Pflege“ ist, mit welchen neuen Betrachtungen die Autoren aufwarten. Es werden inhaltliche Lücken gefüllt, die den psychiatrischen Pflegealltag nicht nur bereichern sollten. Vielmehr sollten diese Begrifflichkeiten vor Ort mit Leben gefüllt werden.

Oder haben Sie sich bereits tiefgründige Gedanken zur „Privatheit“ oder zur „Scham“ in der psychiatrisch-pflegerischen Arbeit gemacht? Haben Sie sich bereits gemüßigt gefühlt, über „Hoffnung“, „Zeiterleben“ oder „Spiritualität“ in der psychiatrisch-pflegerischen Praxis nachzusinnen? Das „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ gibt Ihnen die Gelegenheit, die eigenen Denkdefizite aufzuarbeiten.

Die Tatsache, dass das „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ phänomenologisch arbeitet, eröffnet den psychiatrisch-pflegerischen Praktikern Perspektiven. Sie können die Brücke schlagen von der persönlichen inneren Auseinandersetzung zur fundierten praktisch-pragmatischen Umsetzung. Dass dies an den Betroffenen orientiert geschehen sollte, wird nicht nur daran deutlich, dass die Betroffenen auch als Akteure an dem „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ mitgewirkt haben.

Diese Vieldimensionalität psychiatrisch-pflegerischen Nachdenkens wird beispielsweise in dem Artikel über die Langeweile spürbar.

Ian Needham bringt schon zu Beginn auf den Punkt, worum es geht: „Die Langeweile der PatientInnen ist auch für Pflegende ein Problem. Zum einen müssen sie sich oft die Klagen der gelangweilten PatientInnen anhören und zum anderen können sich Pflegende – etwa durch Appell an deren nährendes Eltern-Ich oder durch pures Mitleiden – gedrängt fühlen, Verantwortung für das (schwerwiegende) Problem der Langeweile der PatientInnen zu übernehmen.“ Über den Brückenschlag von Pflegeprozess und Langeweile eröffnet der Pflegewissenschaftler Needham eine neue Sicht auf die Langeweile. Er schreibt davon, dass es Sinn macht, sich der Langeweile hinzugeben. Wörtlich: „Die bewusste Wahrnehmung der Langeweile kann einen Hinweis liefern, wie das Leben weitergehen könnte.“ Mit solchen Bemerkungen hätte man zahlreiche Anregungen, auch in Übergabebesprechungen und Teamsitzungen tiefsinnigere Diskussionen zu führen als es üblich ist. So steht ja möglicherweise die Frage im Raum, inwieweit die Langeweile ihren eigenen Wert gegenüber dem aktivistischen Impuls hat, psychisch leidende Menschen zu bespaßen.

Dankbar kann man beispielsweise für das Kapitel „Selbstvernachlässigung“ sein. Dieser Artikel erinnert nicht nur an historische Diskussionen zur Verwahrlosung und dem Recht darauf. Durch die stärkere Präsenz von Menschen mit einem Messie-Syndrom hat das Thema neue Aktualität gewonnen.

„Ein wesentlicher belastender Faktor während der Arbeit mit Menschen, die sich selbst vernachlässigen, ist, dass sie Hilfen oft generell ablehnen oder nur zurückhaltend annehmen“, schreibt Stephan Wolff zu Recht. Deshalb erscheint es schlüssig, dass in diesem Zusammenhang auch die ethischen Aspekte der Selbstvernachlässigung unter dem Stichwort „Freiheit zur Verwahrlosung“ diskutiert werden.

Wolff erinnert an einen inzwischen historischen Artikel des verstorbenen Psychiaters Jörg Demand, der von der sittlichen Verpflichtung geschrieben hat, „auch das unschöne Thema der Selbstvernachlässigung in eine kontinuierliche Beziehung zu integrieren, aus Krisen heraus und über Krisen hinweg“. Der Artikel zur „Selbstvernachlässigung“ macht aber auch deutlich, dass die Obdachlosigkeit sicher eine eigene inhaltliche Würdigung verdient hat.

Gekonnt und eingängig setzen sich die Autoren des „Lehrbuchs Psychiatrische Pflege“ mit der vielschichtigen Arbeit auseinander. Sie machen Streifzüge durch die Grundlagen der Psychiatrie und die Geschichte, durch Pflegebeziehung und Interaktion sowie Dokumentation und Pflegesprache, durch körperbezogene Interventionen und psychiatrische Notfälle. Sie thematisieren Zwangsmaßnahmen und Adhärenz, geistige Behinderung und Manipulation, Selbstvernachlässigung und Vertrauen. Auf den ersten Blick fühlt man sich beeindruckt von der inhaltlichen Präsenz des „Lehrbuchs Psychiatrische Pflege“.

Wenn man sich länger mit ihm auseinandersetzt, wünscht man sich noch andere Themen. Beispiel: Schüchternheit, sekundäre Traumatisierung psychiatrisch Tätiger.

Wenn man vor Ort immer wieder Diskussionen um die Grundhaltungen psychiatrisch Pflegender führt, so bietet das „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ viel Munition für den intra- und den interprofessionellen Diskurs.

Schade ist es, dass zu wenige Kapitel aus den beiden vorhergehenden Auflagen angepasst worden sind. An der einen oder anderen Stelle hat es sicher inhaltliche Weiterentwicklungen gegeben, die ihren Niederschlag im „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ finden sollten.

Das „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ hat es verdient, auch in den nächsten Jahren weitergeschrieben zu werden, schließlich wird sich auch die Psychiatrische Pflege weiter wandeln. Dann könnte es auch weiterhin die Beschreibung als „phänomenales Werk“ behalten. Und dies nicht nur wegen der mehr als sechs Dutzend Kapitel und mehr als 1000 Seiten.