Gesundheitswesen 2013; 75 - A180
DOI: 10.1055/s-0033-1354142

Prävention und Rehabilitation vor Pflege – eine systematische Betrachtung

E Nüchtern 1
  • 1MDK Baden-Württemberg, Lahr im Schwarzwald

Hintergrund: Die absehbaren demographischen Veränderungen lassen nach der zukünftigen Versorgung pflegebedürftiger Menschen fragen. Präventions- und Rehabilitationsleistungen, die dem Auftreten und dem Fortschreiten von Pflegebedürftigkeit entgegenwirken, sind vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Erfordernisse und des demographischen Wandels, aber auch aus humanitären Gründen (§70 SGB V) eine wichtige Option. Nicht zufällig stärkt das Pflegeneuausrichtungsgesetz das Prinzip „Rehabilitation vor Pflege“ und steht ein Präventionsgesetz aktuell auf der Agenda des Gesetzgebers. Vor diesem Hintergrund werden die Ansatzpunkte für Präventions- und Rehabilitationsleistungen vor und bei Pflegebedürftigkeit aus sozialmedizinischer Perspektive systematisch im Überblick dargestellt. Methodik: Für die Darstellung wird die Systematik der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und ihr Modell der Wechselbeziehungen zwischen Krankheit, Krankheitsauswirkungen und externen sowie internen Einflussfaktoren genutzt. Anhand der Struktur der ICF werden Ansatzpunkte, Ziele und Inhalte von Leistungen zur Prävention vor und bei Pflegebedürftigkeit voneinander abgegrenzt. Ergebnisse: Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI entsteht aus krankheitsbedingten Schädigungen und setzt daraus resultierende Beeinträchtigungen von Aktivitäten des täglichen Lebens sowie der Teilhabe an Lebensbereichen voraus. Prävention zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit kann daher auf die Primär- und Sekundärprävention der zugrundeliegenden Krankheiten ausgerichtet sein, Prävention bei bereits bestehender Pflegebedürftigkeit darauf, den Krankheitsauswirkungen auf Aktivitäten und Teilhabe entgegenzuwirken. Primärpräventive Leistungen zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit setzen an Umweltfaktoren an (beispielsweise altersgerechte Gestaltung des Wohnumfeldes oder Nutzung der Einstellungen anderer Menschen im Umfeld für Verhaltensänderungen im Rahmen eines Setting-Ansatzes) und an personbezogenen Faktoren wie beispielsweise Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten. Leistungen zur Sekundärprävention von Krankheiten, die Pflegebedürftigkeit begründen, zielen vor allem auf Gesundheitsprobleme und funktionelle sowie strukturelle Schädigungen. Sie umfassen ein breites Spektrum von Maßnahmen von der Krankheitsfrüherkennung über ärztliche Behandlung und verordnete Leistungen wie Heilmittel bis zu komplexen Vorsorgeleistungen. Tertiärpräventive Leistungen zielen darauf, Beeinträchtigungen von Aktivitäten und der Teilhabe entgegenzuwirken. Hierzu gehören neben z.B. Hilfsmitteln oder rehabilitierender Pflege die komplexen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Letztere sind indiziert, wenn nicht nur vorübergehenden Aktivitäts- und/oder Teilhabebeeinträchtigungen entgegengewirkt werden kann, dafür jedoch einzelne, unabgestimmte Maßnahmen nicht ausreichen. Bei geriatrischen Patienten, die den größten Anteil pflegebedürftiger Menschen ausmachen, steht grundsätzlich mit der geriatrischen Rehabilitation ein spezifisch auf ihre Situation ausgerichtetes Rehabilitationsangebot zur Verfügung. Diskussion: „Rehabilitation vor Pflege“ als Gebot des SGB XI, auch durch komplexe, interdisziplinär im Rahmen eines abgestimmten Rehabilitationsplans unter ärztlicher Leitung erbrachte Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Pflegebedürftigkeit entgegenzuwirken, und „Rehabilitation in der Pflege“, die Pflege mit dem Ziel der Teilhabeermöglichung gestaltet, sind zu unterscheiden und nicht konkurrierend zu verstehen. In einigen Bundesländern werden keine geriatrischen Rehabilitationsleistungen nach §40 SGB V angeboten. Dennoch sind kurative Krankenhausbehandlung und komplexe medizinische Rehabilitationsleistungen zu unterscheiden. Vorbehalte gegenüber Präventions- und Rehabilitationsleistungen betreffen oft Zweifel an deren Notwendigkeit, Realisierbarkeit und ihrem Erfolg. Prävention und Rehabilitation können als unübersichtliche und unkalkulierbare „black box“ erscheinen. Eine klärende Beschreibung der unterschiedlichen Ziele, Inhalte und Indikationen der verschiedenen möglichen Maßnahmen kann dem entgegenwirken. Die Nutzung der ICF als Bezugssystem für eine systematische Betrachtung der Ansatzpunkte für Präventions- und Rehabilitationsleistungen vor und bei Pflegebedürftigkeit erleichtert es, fundierte Empfehlungen für diese Leistungen abzugeben und gleichzeitig den Zusammenhang der Ansätze im Blick zu behalten.