Zahnmedizin up2date 2014; 8(4): 391-424
DOI: 10.1055/s-0033-1357927
Interdisziplinäre Behandlung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Orofaziale Spalten

Das interdisziplinäre Behandlungskonzept am Universitätsklinikum Bonn
Nikolaos Daratsianos
,
Elisabeth Mangold
,
Markus Martini
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. Juli 2014 (online)

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Einleitung

Orofaziale Spalten gehören zu den häufigsten angeborenen Missbildungen. Die häufigste Variante ist eine Verbindung von Mund- und Nasenhöhle im Bereich der Lippen, des Kiefers und des Gaumens.

Die Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten (LKG) können eine Reihe an Beeinträchtigungen und Folgeerkrankungen hervorrufen. Im Einzelnen können dies eine Neigung zu entzündlichen Mittelohrerkrankungen, eine Behinderung der Laut- und Stimmbildung sowie der Sprachentwicklung und Hörbehinderungen sein. Zudem treten immer Malokklusionen und Dysgnathien sowie ästhetische Beeinträchtigungen auf. Das soziale Verhalten wird dadurch maßgeblich beeinflusst. Darüber hinaus gibt es Kombinationen mit zusätzlichen Fehlbildungen (z. B. im Rahmen eines Syndroms), die schwerwiegende funktionelle Störungen mit sich bringen können, wie akute Ateminsuffizienz, Ernährungsprobleme, geistige Behinderung, Herzfunktionsstörungen u. a.

Aufgrund von embryonalen und epidemiologischen Daten können die Spalten in vier Formen unterteilt werden [1]:

  • Lippenspalten

  • Lippenspalten mit Gaumenbeteiligung

  • isolierte Gaumenspalten

  • seltene Gesichtsspalten

Die Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten können einseitig oder beidseitig auftreten. Ausnahme: Spalten im weichen Gaumen sind immer median. Sie variieren zwischen Minimalvarianten (z. B. eine Lippenkerbe oder eine gespaltene Uvula) und Maximalvarianten (durchgängige Spalten des weichen und harten Gaumens, des Alveolarfortsatzes und der Lippe bis in den Naseneingang).

Die klinisch-morphologische Klassifikation der Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten nach der internationalen LAHSHAL-Kodierung [2] gibt dem Kliniker ein wichtiges Instrument in die Hand, die Spalte zunächst nach dem Phänotyp zu beschreiben (Abb. [1]).

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Abb. 1 Der betroffene Bereich wird mit dem initialen Buchstaben gekennzeichnet (L = Lip; A = Alveolus; H = Hard palate; S = Soft palate) [2]. Ist ein Bereich nicht betroffen, kommt ein Bindestrich zum Einsatz. a Spalte des weichen Gaumens. b Spalte des harten und weichen Gaumens. c Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Spalte. d Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. e Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte.

Zusammen mit den syndromalen Formen wird die Prävalenz auf 1 : 600 lebenden Geburten weltweit geschätzt und schwankt in Abhängigkeit von der ethnischen Zugehörigkeit stark. Schätzungsweise sind orofaziale Spalten bei 30–50 % der Patienten Teil eines übergeordneten Syndroms. Für die nicht syndromalen Formen in den Europäischen Populationen wird die Prävalenz auf 1 : 1000 für Lippenspalten mit oder ohne Gaumenbeteiligung und auf 1 : 2400 für isolierte Gaumenspalten geschätzt [3]. Männer sind häufiger bei Lippenspalten mit oder ohne Gaumenbeteiligung und Frauen häufiger bei isolierten Gaumenspalten betroffen [4].

Die Ätiologie der orofazialen Spalten ist komplex und multifaktoriell im Sinne von genetischen Einflüssen mit variablem Einfluss von exogenen Faktoren. Man geht davon aus, dass es in Abhängigkeit vom Ausmaß der Exposition der Schwangeren gegenüber einer Noxe und dem individuellen genetischen Hintergrund des Kindes zur Manifestation der Spalte kommen kann.

Als exogene Faktoren werden folgende Einflüsse in der Frühschwangerschaft diskutiert:

  • Rauchen

  • Folsäuremangel

  • mangelhafte Ernährung

  • teratogene Medikation

  • Strahlenbelastung

  • Stress

  • Alkoholabusus

  • Hypoxie

  • Virusinfektionen

  • andere Einflüsse

Für das Rauchen als Risikofaktor [5] und die Folsäureeinnahme als Prophylaxe [6] liegt mittlerweile eine relativ gesicherte Evidenz vor. Die Wichtigkeit von exogenen Faktoren für eine Spaltbildung wird bekräftigt durch Hinweise, dass im Rahmen einer geplanten Schwangerschaft eine bewusst eingehaltene gesunde Lebensführung als protektiver Faktor wirken kann [7].

Merke: Wichtige Prophylaxe gegen eine Spaltbildung: Folsäureeinnahme und kein Rauchen während der Schwangerschaft!

Aus genetischer Sicht wird unterschieden zwischen isolierten Spalt-Fehlbildungen und Kombinationen von orofazialen Spalten mit anderen Fehlbildungen, häufig in Form eines komplexen Syndroms [8]. Ergebnisse aus Zwillingsstudien haben ergeben, dass zumindest für die nicht syndromalen Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten die sog. Heritabilität (ein Maß für den Beitrag genetischer Faktoren bei der Entstehung einer Auffälligkeit) mit über 90 % sehr hoch ist. Dies bedeutet, dass exogene Risikofaktoren für die Entstehung der isolierten Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte offenbar eine untergeordnete Rolle spielen. Welche die ursächlichen genetischen Risikofaktoren sind, ist bislang nur bruchstückhaft bekannt. In den letzten Jahren wurden allerdings signifikante Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt – mittels sog. genomweiter Assoziationsuntersuchungen konnten mehrere Regionen im humanen Genom identifiziert werden, in denen ursächliche Risikofaktoren liegen. Wie die Risikofaktoren in diesen Regionen im Detail beschaffen sind, ist aber immer noch unbekannt [3], [9], [10], [11], [12].