PPH 2013; 19(06): 336-337
DOI: 10.1055/s-0033-1360808
Quintessenz
Für Sie gelesen: Aktuelle Studien
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Measuring the recovery orientation of assertive community treatment

Contributor(s):
Anja-Maria Reichel
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Publication Date:
19 November 2013 (online)

Messung der Recovery-Orientierung in der nachhaltigen gemeindenahen Behandlung

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(Foto: JAPNA)

Eine recovery-orientierte Behandlung hat im psychiatrischen Gesundheitsversorgungssystem der anglo-amerikanischen Länder höchste Priorität. Eine entsprechende Gesetzgebung sowie anerkannte Behandlungsleitlinien sollen sicherstellen, dass die Anbieter psychiatrische Versorgungsprogramme vorhalten, die die Vision von Recovery und Hoffnung auf Genesung unterstützen.

Dennoch kann es zuweilen zu Widersprüchen in der Anwendung recovery-orientierter Angebote und empirisch validierter ([Glossar]) Behandlungen kommen. Ein typisches Beispiel für diese Widersprüchlichkeit ist das Assertive Community Treatment (ACT) ([Glossar]), eine in den USA und Großbritannien anerkannte und evidenzbasierte Praxis der aufsuchenden, interdisziplinären Versorgung, die sich im Bereich der Interaktion mit psychisch schwer erkrankten Menschen, der Reduzierung von Hospitalisierung und der Stabilisierung der Sozial- und Wohnverhältnisse erfolgreich gezeigt hat.

Obwohl ACT sich als effektiv erwiesen hat und bereits flächendeckend eingesetzt wird, hat dieses Versorgungskonzept auch Kritiker, die dessen Recovery-Orientierung in Frage stellen – insbesondere in Bereichen, wie beispielsweise Entscheidungsfreiheit, Eigenverantwortung, Empowerment und Vermittlung von Hoffnung. Aus diesem Grund hat sich ein Forscherteam der Frage gewidmet, mit welchem Ansatz man die Ausprägung der Recovery-Orientierung von ACT-Teams aussagekräftig messen kann.

Hintergrund: Strukturell ist ACT so organisiert, dass es die persönliche Recovery der Klienten ideal unterstützen könnte. Da sich die Teams aus den verschiedensten Professionen zusammensetzen, verfolgen sie grundsätzlich einen ganzheitlichen Ansatz, mit dem viele Lebensbereiche des Klienten abgedeckt werden können.

Gleichzeitig ist ACT so konzipiert, dass die aufsuchenden Kontakte mit Nachdruck durchgeführt werden, insbesondere bei Klienten, die schwer in fortlaufenden Behandlungen zu halten sind. So nutzen ACT-Teams häufig Strategien, welche die Macht und Kontrolle eher in die Hand des Leistungsanbieters als in die des Nutzers legen. Beispielsweise werden engmaschige Kontrollen der Medikamenteneinnahme eingesetzt, es gibt Verträge zur Kontrolle bestimmter Verhaltensweisen, wie Selbstverletzung oder parasuizidaler Handlungen, bis hin zur stellvertretenden Übernahme der finanziellen Angelegenheiten, um die Verwendung der staatlichen Grundsicherung so zu steuern, dass keine Schulden anfallen.

Weil die genannten Ansätze der verbindlichen Behandlung im ACT regelmäßig genutzt werden, müssen sich diese Programme der Kritik stellen, einen paternalistischen, das heißt bevormundenden Charakter zu haben – manche Kritiker sprechen auch von Zwangsprogrammen [1].

Ziel der Studie: Die Autoren der Studie waren daran interessiert, Methoden zu entwickeln, die erstens die Ausprägung der Recovery-Orientierung von ACT-Teams möglichst genau einschätzen können und zweitens Unterschiede in der Behandlungspraxis verschiedener Programme erfassen können. Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Klienten der Teams mit einer höheren Recovery-Orientierung eine höhere Zufriedenheit, mehr Hoffnung und eine größere Fähigkeit zu selbstständigem Krankheitsmanagement aufweisen. Außerdem wurde angenommen, dass Mitarbeiter in Teams mit einer höheren Recovery-Orientierung hinsichtlich der Chancen ihrer Klienten, zu „recovern“, zuversichtlicher sind.

Methode: Indianapolis ist ein US-amerikanischer Bundesstaat, dessen Gesundheitsministerium feste Standards für Anbieter von ACT festlegt, deren Einhaltung überwacht und die Ergebniseinschätzungen auch veröffentlicht. In diesem Staat wurden anhand dieser Einschätzungen zwei ACT-Teams für die Studie ausgewählt, eines (Team 1, mit neun Mitarbeitern und 43 Klienten) wies besonders viele Attribute von recovery-orientierter Versorgung auf, das andere (Team 2, mit 12 Mitarbeitern und 74 Klienten) eher wenige.

Diese Teams wurden über einen Zeitraum von drei Monaten sechs Mal von den Forschern besucht, dabei wurden Behandlungspläne für zehn zufällig ausgesuchte Klienten begutachtet, Interviews durchgeführt und Tagebücher verteilt. Die morgendlichen Übergaben wurden beobachtet und einzelne Mitarbeiter auf ihren Touren zu den Klienten begleitet.

Mitarbeiter füllten Fragebögen bezüglich ihrer Erwartungen an die Recovery-Chancen ihrer Klienten aus. Klienten füllten Fragebögen aus, die erhoben, wie aktiv sie in die Behandlung eingebunden waren, wie gut sie ihre Krankheit managen konnten, wie viele Wahlmöglichkeiten sie in ihrer Behandlung hatten und wie hoffnungsvoll, zufrieden und optimistisch sie sich fühlten.

Tagebücher wurden von beiden Gruppen ausgefüllt und dienten der Erhebung von Faktoren, wie beispielsweise Vermittlung von Hoffnung, Schaffung von Wahlmöglichkeiten, Förderung von Unabhängigkeit, Ermunterung zu neuen Verhaltensweisen, Risikobereitschaft und die Ausrichtung an durch die Klienten definierten Zielen.

Zusätzlich wurden die unterschiedlichen Erhebungsmethoden auf ihre Durchführbarkeit hin überprüft.

Wichtigste Ergebnisse: Die aussagekräftigsten Ergebnisse dieser Studie lieferte die Sichtung der Behandlungspläne und der Behandlungstagebücher beider Teams und ihrer Klienten.

Die Behandlungspläne zeigten bei Team 1, dass dessen Klienten und deren Angehörige weitreichender in den Behandlungsprozess eingebunden waren und dass individuelle Ziele und Stärken der Klienten öfter berücksichtigt wurden. Bezüglich der Instrumente zur Verhaltenskontrolle ließ sich beobachten, dass Team 1 beispielsweise seltener Mietverträge einbehielt oder Medikamente unter Aufsicht einnehmen ließ. Die Tagebücher deuteten darauf hin, dass die Mitarbeiter aus Team 1 ihre eigenen Interventionen als wirkungsvoller erlebten als die Mitarbeiter des Vergleichsteams 2. Dazu passt, dass auch die Klienten des ersten Teams die konkreten Kontakte zu den Mitarbeitern als ermutigender erlebten und sich in ihrer Unabhängigkeit gefördert fühlten.

Die Unterschiede zwischen den Teams, die in Fragebögen zutage traten, zeigten sich hingegen als nicht aussagekräftig: In der Selbsteinschätzung lagen die Klienten beider Gruppen bei ähnlichen Werten in den Bereichen Unabhängigkeit, Krankheitsmanagement, Hoffnung, Optimismus und Zufriedenheit. Da bei den Fragebögen die Rücklaufquote mit 46 Prozent eher gering ausfiel, könnten möglicherweise aus beiden Teams hauptsächlich Klienten mit einem höheren Funktionsniveau geantwortet haben, was Unterschiede zwischen den Gruppenergebnissen verfälschen könnte. Zudem ist die Auswertung von Behandlungsplänen und Tagebüchern auch dem Risiko unterworfen, durch Voreingenommenheit der Forscher verzerrt, das heißt einseitig bewertet zu werden.

Diskussion und Schlussfolgerung: Die Erkenntnisse aus dieser Studie über geeignete Erhebungsmethoden für die Recovery-Orientierung ambulanter Teams sowie geeigneter Interventionen zur verstärkten Einbindung von Recovery-Elementen in die ambulante Arbeit sind aufschlussreich, auch für die wachsende ambulante psychiatrische Versorgungsstruktur in Deutschland.

Die Forscher arbeiteten in erster Linie heraus, dass der tatsächliche Grad der Recovery-Orientierung ambulant arbeitender Teams am deutlichsten anhand der Sichtung der Behandlungspläne und durch das Führen von Tagebüchern seitens der Teilnehmer zu bestimmen ist.

Obwohl die Generalisierbarkeit ([Glossar]) der Studienergebnisse durch das kleine Probandenfeld in einem einzigen Bundesstaat der USA eingeschränkt wird, ergeben sich dennoch Konsequenzen für die Praxis aus dieser Arbeit. Betrachtet man die Unterschiede in der Behandlungsplanung und der Arbeitsweise der Teams, so wird deutlich, dass Pflegende in ACT-Teams ihre Klienten besser in den Prozess einbinden könnten. Die Autoren diskutieren, dass bestimmte Kontrollpraktiken sicherlich auch von sehr recovery-orientierten Teams weiterhin eingesetzt werden können, allerdings seltener, in abgeschwächter Form und unter Berücksichtigung der individuellen Wünsche der Klienten.

Hierzu empfehlen die Autoren nützliche Ansätze, die die aktive Einbindung der Klienten in die Behandlung verstärken, beispielsweise Instrumente des „Shared Decision Making“ ( [Glossar]) oder die personenzentrierte Pflegeplanung [2]. Besonderes Augenmerk legen sie auf die Rolle der Pflege bei der Medikationsüberwachung und weisen auf die beratende und unterstützende Funktion der Pflege in diesem Bereich hin. Sicher wäre hier ein Kurzinterventionsprogramm wie die Adherence-Therapie [3] die geeignete Wahl.

Anja-Maria Reichel

Glossar

Empirisch validiert: Durch wiederholte Forschungen getestete und bestätigte Ergebnisse bestimmter Interventionen.

Assertive Community Treatment (ACT): Mitarbeiter aus einem multidisziplinären Team (bestehend aus zehn bis 12 Mitarbeitern), in dem Pflegende, Sozialarbeiter und Psychologen, Suchthelfer, Ärzte und Peers (Betroffene, die in ihrer eigenen Recovery bereits gut vorangekommen sind) vertreten sind, suchen die Klienten regelmäßig ein- bis zweimal pro Woche mit Nachdruck („assertive“) auf. Schwerpunkte der Arbeit sind die Überwachung der Medikamenteneinnahme, die Koordinierung der Behandlung sowie die Förderung der Eigeninitiative der Klienten. Die Betreuung, die in Krisen auch über 24 Stunden andauern kann, findet zumeist im Lebensumfeld der Klienten statt.

ACT kommt speziell bei Personen zum Einsatz, die ernsthafte und anhaltende psychische Störungen aufweisen und zudem Gefahr laufen, den Kontakt zu den Leistungsanbietern zu verlieren – Suchterkrankungen, Obdachlosigkeit und Konflikte mit dem Gesetz sind häufige Merkmale der Nutzer von ACT [4].

Generalisierbarkeit: Grad der zu erwartenden Übertragbarkeit der Ergebnisse einer Studie auf eine größere Gruppe oder die Gesamtbevölkerung.

Shared Decision Making: Eine bestimmte Form der Interaktion zwischen Pflegenden und Klienten, die geteilte Information und gleichberechtigte Entscheidungsfindung bezüglich der Behandlung zur Grundlage hat [5].

 
  • Literatur

  • 1 Anthony WA, Rogers ES, Farkas M. Research on evidence-based practices: future directions in an era of recovery. Community Mental Health Journal 2003; 39 (2) 101-114
  • 2 Adams N, Grieder DM. Treatment planning for person-centered care: the road to mental health and addiction recovery. Boston: Elsevier Academic Press; 2005
  • 3 Schulz M, Stickling-Borgmann J, Spiekermann A. Professionelle Beziehungsgestaltung in der psychiatrischen Pflege am Beispiel der Adhärenz-Therapie. Psych Pflege 2009; 15 (5) 226-231
  • 4 Wolff S. Assertive Community Treatment als Konzept für die ambulante psychiatrische Pflege. In: Abderhalden C, Needham I, Hrsg. Psychiatrische Pflege – verschiedene Settings, Partner, Populationen. Kongressband vom 2. Dreiländerkongress in Bern. Unterostendorf: IBICURA; 2005
  • 5 Scheibler F, Pfaff H Hrsg. Shared Descision – Making. Der Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess. Weinheim: Juventa Verlag; 2003