Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82(2): 67
DOI: 10.1055/s-0034-1365890
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychiatrie in der DDR

Psychiatry in the GDR
C. W. Wallesch
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. Februar 2014 (online)

Preview

Es ist an der Zeit, dass sich die Medizingeschichte der systematischen Analyse der Psychiatrie in der DDR, die ja mittlerweile ein abgeschlossenes historisches Kapitel darstellt, widmet. Kurz nach der Wende hatte eine Expertenkommission im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums die problematische Situation insbesondere der Anstaltspsychiatrie begutachtet [1]. Dabei ist zu bedenken, dass es die Psychiatrie-Enquete der Bundesrepublik und die daraus gezogenen Konsequenzen für die Versorgung psychisch Kranker in der DDR nicht gegeben hatte [2]. Die Rodewischer Thesen zu sozialpsychiatrischen Reformen wurden nur zu kleinen Teilen auf regionaler Ebene umgesetzt [3]. Einflussnahmen der Staatsmacht und Zwangsbehandlungen von Dissidenten sind belegt [4], wenn auch die Verfolgung Andersdenkender in der DDR bei weitem nicht das Ausmaß und die Systematik wie in der Sowjetunion erreichte.

Die Arbeitsgruppe um Holger Steinberg hat sich um die Dokumentation und Analyse der Psychiatrie in der DDR verdient gemacht, sei es zu politischen Einflussnahmen [5], dem Einfluss der sowjetischen Psychiatrie in Gestalt der Pawlowschen Schlaftherapie [6] oder eben der Darstellung der Vorgeschichte und der Auswirkungen der Rodewischer Thesen [3].

In diesem Heft der „Fortschritte“ legt die Arbeitsgruppe nun eine historische Gesamtschau über einen wichtigen Bereich der DDR-Psychiatrie vor [7]. Vergleicht man die DDR-Psychiatrie der 50er und 60er Jahre, so ergeben sich zwar inhaltliche Unterschiede zur westdeutschen, kaum jedoch solche der wissenschaftlichen Qualität. Wie die Autoren schreiben, verliefen die Entwicklungen in West und Ost weitgehend parallel, einmal abgesehen von dem Einfluss des Pawlowismus. Der biologische Einfluss war über lange Zeit sogar stärker als in der Bundesrepublik. Großen Einfluss hatte Karl Leonhard (* 1904, † 1988) als Schüler von Karl Kleist, der 1955 in die DDR übersiedelte, um Ordinarius zunächst in Erfurt, dann an der Humboldt-Universität zu Berlin zu werden. Einem Ruf auf den früheren Kleist-Lehrstuhl in Frankfurt durfte er 1964 nicht folgen, weil die DDR-Behörden seine Ausreise verweigerten. Seine über die DDR hinausreichende Bedeutung wird bis heute von der Internationalen Wernicke-Kleist-Leonhard Gesellschaft gewürdigt.

Die Psychiatrie in der DDR litt wie die übrige klinische Medizin unter den knappen Ressourcen des Staates und der Wirtschaft. Die psychopharmakologische Revolution der Behandlung der endogenen Psychosen fand daher erst mit Verzögerung statt [7] [8], die Enthospitalisierung erst nach der Wende. Thormann et al. [7] ist es gelungen, ein anschauliches Bild der Entwicklung der DDR-Psychiatrie auf dem Gebiet der Diagnostik, nosologischen Einordnung und Therapie der Depressionen zu zeichnen. Der historisch interessierte Leser wünscht sich mehr davon.

Zoom
Prof. Dr. med C. W. Wallesch