RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/s-0034-1385662
Buchbesprechungen
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
16. Dezember 2014 (online)

Hans-Jürgen von Wensierski, Claudia Lübcke. „Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause“: Biographien und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich 2012. 434 Seiten, EUR 44,00
Dieser Band berichtet über Ergebnisse eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts. Die Autor_innen haben sich zum Ziel gesetzt, vor dem Hintergrund des aktuellen Diskussionsstands der deutschen Jugendforschung die spezifischen Sozialisationsprozesse junger Erwachsener aus muslimischen Familien mit Migrationshintergrund zu analysieren. Als charakteristisch für die Veränderungen der Sozialisationsumstände von Kindern und Jugendlichen in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg führen sie den grundlegenden Wandel des familialen Beziehungs- und Generationsverhältnisses und den tiefgreifenden Wandel der Geschlechterverhältnisse seit den 1960er-Jahren an. Diese sozialen Prozesse hatten eine Zunahme an individueller Autonomie vieler Jugendlicher gegenüber ihren Elternhäusern zur Folge, gleichzeitig erfolgte eine Ausdifferenzierung der jugendkulturellen Lebenswelten (bzw. Jugendszenen), die in der alten Bundesrepublik einer starken Mediatisierung und massenmedial getragenen Kommerzialisierung ausgesetzt waren (S.18 f.). Wie sich diese Entwicklungen auf die Sozialisationsbedingungen der Kinder aus muslimischen Migrantenfamilien auswirken, versuchen die Autor_innen nachzuzeichnen. Ihr empirisches Material basiert auf Interviews mit 107 jungen Muslimas und Muslimen (jeweils zur Hälfte junge Frauen und Männer), die zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 20 und 30 Jahre alt waren und durchgängig der zweiten Generation zuzurechnen sind. Obwohl von den DFG-Gutachtern eine Konzentration auf die Türkei als Herkunftsland gewünscht wurde, befragten die Interviewer_innen auch junge Erwachsene, deren Eltern aus arabischen Ländern und dem Iran stammen. Positiv hervorzuheben ist, dass sie bei der Rekrutierung der Interviewpartner_innen das Spektrum der verschiedenen islamischen Konfessionen (Sunniten, Schiiten, Aleviten) berücksichtigten. Auch gelang es, junge Erwachsene aus politisch und religiös sehr unterschiedlich orientierten Elternhäusern für ein Interview zu gewinnen. Das Spektrum reicht von sozialdemokratisch-kemalistisch gesonnenen türkischen Eltern über linkssozialistische kurdische oder laizistisch-liberale iranische Eltern bis hin zu tief religiösen sunnitischen oder schiitischen Familien.
Aus den Interviews erarbeitete die Forschungsgruppe 17 Fallstudien. Positiv hervorzuheben ist der exzellente Literaturüberblick, den die Autor_innen ihren Fallstudien voranstellen. Für die thematische Querschnittsanalyse der verschiedenen Biographien wurden vor allem die Bereiche Sexualität, Jugendkultur und Bildungsbiographie berücksichtigt. Auf Basis der biographischen Fallanalysen arbeiteten von Wensierski und Lübcke vier Haupttypen heraus: Typ 1 wird durch einen „säkularisierten jugendbiographischen Verselbständigungsprozess“ charakterisiert, Typ 2 ist durch eine „bikulturelle Identitätsproblematik“ gekennzeichnet. Typ 3 werden Biographien zugeordnet, bei denen eine „Re-Islamisierung im Gefolge der Adoleszenz“ erfolgte, Typ 4 vereint „selektiv modernisierte“ islamisch geprägte Jugendbiographien. Die vier Haupttypen werden als Ergebnis der Analyse jeweils in drei oder vier Subtypen ausdifferenziert.
Beeindruckend ist der Reichtum des dargestellten biographischen Materials. So kommt unter Typ 1 eine Hip-Hop-begeisterte Fußballerin mit marokkanischer Mutter und palästinensischem Vater zu Wort, der es zunächst leicht fällt, das von den Eltern vertretene Virginitätsgebot vor der Ehe zu respektieren, da sie sich kaum für Sex interessiert und sich nicht als „das typische Mädchen“ sieht (S.143). Diese junge Frau nimmt mit 18 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Sie weiß, dass sie häufig als „Ausländerin“ betrachtet wird, fühlt sich aber dennoch „ein bisschen deutsch“, da man dafür kein „deutsches Blut“ haben müsse (S.154). Ein junger schwuler Kurde, der ebenfalls Typ 1 zugeordnet wird, sieht sich als „Freiheitskämpfer für Schwule“ (S. 223) in seinem türkisch-kurdischem Umfeld. Aufgrund vielfältiger Ausgrenzungserfahrungen begreift er sich nicht als Deutscher, sondern als „Ehrenfelder kurdischer Kölner“ (S. 232). Er fühlt sich durch das deutsche Bildungswesen gefördert und studiert Neu- und Alt-Griechisch, gleichzeitig ist er als Volkstanzlehrer in einer kurdischen Volkstanzgruppe aktiv. Als er aus der elterlichen Wohnung ausziehen will, weil beide Eltern seine Homosexualität nicht akzeptieren, bekommt sein Vater einen Nervenzusammenbruch. Mit Rücksicht auf seine Eltern bleibt er zunächst ein weiteres Jahr bei seinen Eltern wohnen.
Dieser „schonende“ Umgang mit den Eltern auch in Konfliktsituationen scheint charakteristisch zu sein für eine Mehrheit der interviewten jungen Frauen und Männer; „Seltener suchen sie die offensive Auseinandersetzung mit dem Elternhaus […] und sind eher bemüht, den elterlichen Tabus auszuweichen“ (S. 20). Dies gilt nicht nur für den Bereich der Sexualität, sondern auch für andere Lebensbereiche. Vor dem Hintergrund der seit den 1990-er Jahren beobachteten Re-Islamisierung vor allem junger türkisch- und kurdischstämmiger Erwachsener in Deutschland sind die Fallbeispiele der Autor_innen besonders aufschlussreich. Farrad, ein türkischstämmiger Moschee-Vorbeter stößt bei seinen laizistisch und sozialdemokratisch-kemalistisch geprägten Eltern zunächst auf heftige Ablehnung, als er sich zu einem gläubigen Moslem entwickelt, islamische Theologie und Arabisch studiert und Vorbeter wird. Obgleich seine Eltern sich beruhigen, als sie merken, dass er kein Salafist geworden ist, kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit ihnen. Für Farrad ist der Respekt vor den Eltern jedoch ein hohes Gut und er versucht in Konfliktsituationen, zumeist erfolgreich, zu „deeskalieren“.
Harte Konflikte zwischen ihnen und den Eltern werden jedoch auch von den Interviewpartner_innen berichtet, die aus gläubigen sunnitischen oder schiitischen Elternhäusern stammen. In diesem Zusammenhang sind jene Fallbeispiele von besonderem Interesse, in denen junge gläubige Frauen ihre Kenntnisse islamischer Theologie und angemessener islamischer Lebensführung bei der Abwehr der von den Brüdern erwarteten Hausarbeit selbstbewusst einsetzen; gleiches gilt für die Weigerung, eine frühe Ehe einzugehen. Diese biographischen Konstellationen sensibel herausgearbeitet zu haben, die traditionellen Klischees über gläubige Muslimas widersprechen, kann als ein besonderes Verdienst der Studie festgehalten werden. Das Tragen des Kopftuchs erweitert in dieser Perspektive bei manchen jungen muslimischen Frauen den Freiraum gegenüber einer rigiden elterlichen Frömmigkeit. In der „Diskursivierung“ der Angemessenheit der Regeln islamischer Lebensführung sind die am Koran und in der islamischen Theologie geschulten Frauen ihren Eltern und Brüdern oft deutlich überlegen. Sowohl gläubige Muslimas als auch junge weltlich orientierte Türkinnen oder Kurdinnen unterscheiden in ihren Auseinandersetzungen mit ihrem konservativen Umfeld oft zwischen religiösen Geboten und nicht religiös, sondern in der traditionellen Geschlechterordnung begründeten Verhaltensregeln.
Angesichts der nach wie vor unbefriedigenden Qualität und des oft geringen Umfangs des Sexualkundeunterrichts in Deutschland überrascht es positiv, dass für einen hohen Anteil der befragten männlichen Jugendlichen und einen noch höheren Anteil der weiblichen Jugendlichen dieser eine bedeutsame (oft die einzige) Quelle sexueller „Aufklärung“ darstellte, ebenso wie positiv er von den Interviewpartner_innen gewürdigt wird. Dass Jugendliche mit muslimischem Hintergrund nicht in einer vollständig anderen Welt leben, zeigt sich darin, dass viele von ihnen die Jugendzeitschrift „Bravo“ als Quelle von Informationen zur Sexualität angeben.
Ein bedeutender Anteil der Interviewpartner_innen hat die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Damit werden keineswegs häufige Vorkommnisse der Ausgrenzung oder der Diskriminierung als „Ausländer_innen“ verhindert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass eine Reihe gläubiger Muslime und Muslimas dennoch betonen, dass sie ihren Glauben freier in Deutschland leben können als in den Herkunftsländern ihrer Eltern. Vielen Interviewpartner_innen sind die regionalen Unterschiede, z. B. zwischen dem Rheinland und Hamburg oder Berlin und Bayern, durchaus bewusst. Das Erleben dieser Differenzen führt zu Situationen, die der Komik nicht entbehren. Ein junger Mann mit iranischen Eltern, der, da er die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat, nach dem Abitur in Marburg seinen Zivildienst in Bayern ableisten musste, erlebte dort, dass er keineswegs zwangsläufig als Perser wahrgenommen wurde, sondern „in erster Linie [… als] ein Preuße“ (S.189).
Auf der Basis ihres biographischen Materials gelingt es von Wensierski und Lübcke, viele gängige – auch durch die Tradition des europäischen „Orientalismus“ geprägte – Stereotype aufzulösen und auf real existierende Konflikte hinzuweisen. Mit anderen Autor_innen kommen sie zu dem Schluss, dass „die Sexualentwicklung junger Muslimas und Muslime „durch eine gravierende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet“ ist, „die sich gewissermaßen als Parallelität einer Sexualmoral der 1950er- und 1990er-Jahre beschreiben lässt“ (S. 21). Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erzeugt in vielen türkisch-, kurdisch- und arabischstämmigen Familien Spannungen. Von Wensierski und Lübcke betonen, dass ein hoher Anteil der Jugendlichen aus diesen Elternhäusern die „asketische und verbotsorientierte Sexualmoral in zentralen Aspekten weitgehend“ teilt (S. 22). Welche bedeutenden Freiräume sich die Jugendlichen dabei gleichzeitig (offen oder verdeckt) erobern, dokumentieren die Autor_innen beispielhaft.
Sie erinnern vor allem daran, dass religiöse Sozialisation und religiös geprägte Sozialmilieus als bedeutsame sozialstrukturelle Faktoren der Lebenslagen von Jugendlichen in Deutschland stärker beachtet werden müssen. Auch eine bei jungen muslimischen Erwachsenen verbreitete Ablehnung interethnischer und interkonfessioneller Ehen, die sich nicht nur auf nichtislamische Religionen bezieht, sondern auch auf die Aufrechterhaltung einer Grenzziehung zwischen Aleviten, Schiiten und Sunniten, kann als bedeutsames Ergebnis angesehen werden. In ihrer klugen Differenziertheit dürfte die Studie gegenwärtig einzigartig im deutschen Sprachraum sein.
Michael Bochow (Berlin)